Unser Krieg

„Dies ist nicht unser Krieg!“ Dieses Graffito – Absender unbekannt – taucht seit einiger Zeit im Berliner Stadtbild an den unterschiedlichsten Orten auf. Es trifft, es triggert die Sehnsucht nach Frieden, es transportiert berechtigte Sorgen um unkontrollierbare Eskalation. Und doch: Es trifft daneben. Denn dieser von Putin begonnene schreckliche Krieg ist – ob wir es wollen oder nicht – auch „unser“ Krieg. Er trifft unsere Gesellschaft. Wie so viele Kriege auf unserem so eng vernetzten Planeten zu „unseren“ Kriegen werden. Denn das Leid, das sie auslösen, kommt bei uns an und darf uns nicht kalt lassen – die verzweifelten, entwurzelten, schutzsuchenden Menschen bringen den Krieg mit zu uns.

Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung ist auf der Flucht vor Tod und Zerstörung. Foto: Hungarian Interchurch Aid

Millionen auf der Flucht

Der Angriff Russlands am 24. Februar vergangenen Jahres hat innerhalb Europas die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Seit Kriegsbeginn wurde ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung zur Flucht gezwungen: Sechs Millionen sind den Vereinten Nationen zufolge im eigenen Land vertrieben, 17 Millionen sind ins Ausland geflüchtet, davon acht Millionen in europäische Staaten.

Bis zum Jahresende 2022 sind mehr als eine Million Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland angekommen. Das bedeutet auch: Etwa 80 Prozent aller Schutzsuchenden, die 2022 zu uns kamen, flohen vor diesem Krieg.

Was die Lage der Menschen aus der Ukraine von anderen Flüchtlingen unterscheidet: Sie mussten kein langwieriges, kompliziertes Asylverfahren durchlaufen. So ist es in der EU vereinbart. Die Anwendung dieser sogenannten Massenzustrom-Richtlinie erleichtert und vereinfacht ihre Aufnahme. Das erleichtert den gesamten Integrationsprozess.

Trotzdem ist die Begleitung der Ankommenden immer noch für alle ein Kraftakt – für die aufnehmende Gesellschaft und für die Geflüchteten sowieso. Erschöpfung war auch 2022 ein großes Problem in der Arbeit mit Geflüchteten – für Haupt- und Ehrenamtliche.

Überwältigend

Diakonie Katastrophenhilfe (DKH), Brot für die Welt und Diakonie Deutschland – die drei Marken des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung (EWDE) – ziehen in diesen Tagen gemeinsam Bilanz: Ein Jahr Krieg in der Ukraine – was konnten wir tun, für die Menschen, die oft nur ihr Leben zu uns retten konnten? Was lernen wir grundsätzlich für die künftige Flüchtlingspolitik?

Der Blick zurück ermutigt zunächst: Die überwältigende Spendenbereitschaft – über 68 Millionen Euro sind der DKH für die Ukraine-Hilfe anvertraut worden – hat es ermöglicht, in zwölf Ländern Partnerorganisationen und Netzwerke zu unterstützen, die den vom Krieg betroffenen Menschen dort zur Seite stehen. Und dank des zehn Millionen Euro schwere Deutschlandfonds der DKH konnten auch hierzulande Landeskirchen und diakonische Landesverbände unkompliziert Mittel beantragen, um ihre zusätzlichen Hilfsangebote rasch aufzubauen. Das ist ein Grund zu großer Dankbarkeit.

Beispiel Plauen

Unterstützt werden konnten bisher mehr als 245 Einzelprojekte: Dazu gehören Beratung, psychosoziale Hilfsangebote, Sprachkurse, Mutter-Kind-Gruppen, Kinderbetreuung oder Deutschkurse. In Plauen etwa betreibt die Diakonie gemeinsam mit der Stadt das Begegnungs- und Informationszentrums BIZU. Dort finden Ukrainer:innen nicht nur Antworten auf viele ganz praktische Alltagsfragen, sondern können auch eine Rechtsberatung in Anspruch nehmen. In Berlin hat das Johannesstift die erste „Ukraine-Lotsin“ eingestellt.  In Gotha unterstützt die diakonische Freiwilligenagentur Ehrenamtliche, die sich in der Ukrainehilfe engagieren möchten. Die Liste der erfolgreichen Projekte und Initiativen ist lang.

Ermöglicht durch den Deutschlandfonds der DKH konnte das Johannesstift in Berlin eine Ukraine-Lotsin für neu ankommende Flüchtlinge anstellen. Foto: Alexandra Heeser/Diakonie Katastrophenhilfe.

Unverzichtbar waren und sind dabei die vielen Freiwilligen: Ohne sie wäre nur ein Bruchteil von alldem möglich gewesen. Die pragmatische und vor allem zu Beginn maßgeblich von Ehrenamtlichen geleistete Unterstützung gelang vor allem dort gut, wo sie auf die Erfahrung professioneller Organisationen zurückgreifen konnte und gemeinsam gearbeitet wurde. So unterstützen und ermöglichen professionelle Strukturen ehrenamtliches Engagement: In Berlin konnte die Stadtmission mit den Freiwilligen eine Welcome Hall im Berliner Hauptbahnhof für die Erstbetreuung Geflüchteter einrichten. Viele aus freiwilligem Engagement entstandenen Projekte im kirchlich-diakonischen Bereich wurden dann professionalisiert und stabilisiert.

Ein anders Thema, das der Krieg auf der politischen Agenda ganz nach oben geschoben hat, ist die Armutsbekämpfung. Inflation, Energiekrise und die Folgen für viele Rentner:innen, Alleinerziehende, Geringverdienende und Menschen im Transferleistungsbezug haben in den zurückliegenden Monaten einen wichtigen Teil der handfesten sozialpolitischen Arbeit der Diakonie vor Ort bestimmt. Auch so kommt der Krieg bei uns an.

Indirekte Kriegsfolgen

Diese indirekten Kriegsfolgen erschüttern das soziale Gefüge unserer Gesellschaft: Zu viele Menschen machen trotz der umfangreichen Unterstützungspakete der Bundesregierung derzeit die Erfahrung, dass ihre schon vorher bedrückende Not nun existenziell bedrohlich wird. Dass hier politisch gesteuert schnelle und ziel- wie passgenaue Hilfen fließen, wird weiter entscheidend sein, auch für den gesellschaftlichen Frieden.

In einer offenen demokratischen Gesellschaft wie der unseren gibt es keine Alternative zur Solidarität mit Menschen in existentieller Not – egal woher sie kommen. Diese Einsicht gilt für die Alteingesessenen, für Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind und für all die anderen, die sich in Deutschland vor Krieg, Verfolgung oder Not in Sicherheit gebracht haben. Sie alle sind auf Lebenschancen und neue Perspektiven angewiesen.

Verletzlich

Der Ukrainekrieg-Stresstest des vergangenen Jahres hat leider auch gezeigt, wie verletzlich unsere soziale Infrastruktur ist. Auch das ist Teil der Bilanz, die wir nach diesem Jahr ziehen: Die Aufnahme und Versorgung einer Million ukrainischer Geflüchteter hat zu zusätzlichem Druck geführt: Auf Behörden, auf den Wohnungsmarkt, bei der Kinderbetreuung, bei medizinischer Versorgung oder therapeutischen Angeboten.

Die daraus folgende Überlastung, die gesteigerte Fehleranfälligkeit und die langen Wartezeiten beeinträchtigen nicht nur die persönliche Situation hunderttausender Geflüchteter, sondern auch die aller anderen Menschen. Drei Themen, die mit Priorität auf die politische Agenda gehören, sind jetzt besonders dringlich: der mangelnde Wohnraum, die fehlenden Plätze an Schulen und in Kindertagesstätten und nicht zuletzt die Ungleichbehandlung von Geflüchteten.

Lessons learned?

Denn auch das hat sich im Jahr eins des Ukrainekriegs wieder bestätigt: Gute Sozialpolitik ist gute Flüchtlings- und Integrationspolitik – und umgekehrt. Wir haben schon in den Jahren nach dem Flüchtlingssommer 2015 gelernt, dass sich eine schnelle und gezielte Integration in den Arbeitsmarkt auszahlt und das Ankommen in unserer Gesellschaft fördert. Es ist hohe Zeit, das mit den ukrainischen Flüchtlingen erneut Gelernte nun auf eine pragmatische und weitsichtige Flüchtlingspolitik insgesamt zu übertragen.

Wenn Ankommen gelingt, insbesondere die schnelle Integration in den Arbeitsmarkt, stellt die Aufnahme von Geflüchteten keine Belastung mehr für die Sozialsysteme dar. Im Gegenteil: Unsere Sozialsysteme profitieren von jedem Menschen, der sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist. Eine Win-Win-Situation – zuerst für die Geflüchteten selbst und dann eben auch für die Aufnahmegesellschaft.

Besser machen

Um das zu erreichen, braucht es nicht nur großartige Freiwillige und großzügige Spender:innen. Es braucht gute Startbedingungen, insbesondere Aufenthaltssicherheit, volle Unterstützung und ausreichende Beratungs- und Sprachkursangebote. Je früher geflüchteten Menschen so ein alltägliches Leben und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht wird, desto aussichtsreicher sind die Chancen für eine nachhaltige Integration.

Eine solche weitsichtige Sozial- und Flüchtlingspolitik braucht Engagement und einen langen Atem, auch das hat das erste Kriegsjahr gezeigt. Mit Parolen und Patentrezepten geht gar nichts.  Wir haben es mit Menschen zu tun – vor allem dies macht diesen Krieg zu unserem.