Unzureichend und unterkomplex. Anders kann man die Pläne des Bundesgesundheitsministers zur Pflegereform nicht nennen. Was unter der Überschrift „Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz“ (PUEG) unseren Fachleuten vorliegt, wird der desaströsen Ausgangslage der Pflege in Deutschland nicht gerecht.
Was Karl Lauterbach plant, ist allenfalls ein Tropfen auf dem heißen Stein: Nicht die dringend benötigte Strukturreform, die angesichts der demografischen Entwicklung die Pflegeversicherung auf tragfähige Beine stellt und die Finanzierung des Systems Pflege stabilisiert.
Weiße Salbe hilft nicht
Dabei können schon heute zu viele Pflegebedürftige in der Langzeitpflege die Eigenanteile nicht mehr zahlen, signalisieren schon heute viele Einrichtungen und ihre Träger: Wir können unseren Versorgungsvertrag nicht mehr erfüllen, weil wir vorne und hinten nicht zurechtkommen. Dazu kommt der eklatante Fachkräftemangel.
Die Pläne des Ministeriums gehen an dieser herausfordernden Realität schlicht vorbei. Das ist gefährlich, denn weiße Salbe hilft hier nicht. Eine Politik des Nicht-Hinsehens und Nicht-Hinhörens lässt nicht nur die Menschen im Stich, sondern gefährdet inzwischen einen wichtigen Teil des Sozialstaats.
Schon eine Stabilisierung der Pflegeversicherung im Ist-Zustand bräuchte Steuermittel, um die zunehmende Schieflage zu stützen. Was wir aber eigentlich brauchen, ist eine echte Reform. Gute Vorschläge dazu – etwa der Diakonie – liegen reichlich vor.
Strukturkosten mitdenken
Es geht im System Pflege nicht nur darum, die ansteigende Zahl von pflegebedürftigen Menschen nach deren Wünschen und Bedürfnissen mit immer weniger dafür zur Verfügung stehendem Fachpersonal sektorenübergreifend und bestmöglich zu versorgen. Um Menschen angemessen, also mit ausreichend Zeit und in hoher Professionalität pflegen zu können, müssen auch die Strukturen stimmen und die Kosten dafür mitgedacht werden.
Wer bezahlt jetzt beispielsweise die klimarelevanten baulichen Modernisierungen der Einrichtungen, in denen gepflegt wird? Wie refinanziert sich die dringende Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte? Wer bezahlt die Rentenbeiträge pflegender Angehöriger und wie verhindern wir die drohende Altersarmut von pflegenden Angehörigen, die zum größten Teil eben Frauen sind?
Altes Denken
Alle diese Fragen gehören in den Horizont einer dringend notwendigen Pflegereform. Und alle diese Fragen greifen ineinander. Weniger komplex geht es nicht. Keine Antwort auf nur eine dieser Fragen findet sich im Gesetzesentwurf, den Herr Lauterbach ins Kabinett einbringen will. Wie kann das sein?
Anstatt hier endlich neu zu denken, werden die Kostensteigerungen in der Langzeitpflege weiter auf die Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Einrichtungsträger abgewälzt. Es fehlen auch strukturelle Maßnahmen zur wirksamen Begrenzung der immer weiter steigenden Eigenanteile.
Heute schon haben wir Eigenanteile, die im ersten Jahr, in dem Menschen in einer Pflegeeinrichtung sind, im Durchschnitt etwa das Doppelte einer Durchschnittsrente in Deutschland ausmachen. Schon jetzt können viele Menschen diese Kosten nicht tragen und sind auf Unterstützung der öffentlichen Hand angewiesen.
Fair und gerecht?
In der Regel übernehmen dann die Kommunen im Rahmen der Sozialhilfe die Kosten. Und oft trifft das ausgerechnet die ohnehin schon klammen Gemeinden, in denen besonders viele relativ arme alte Menschen leben. Ist das etwa eine gerechte öffentliche Beteiligung an der Finanzierung ?
Mit Steuermitteln aus dem Bundeshaushalt könnte man das Ganze auf eine vernünftige und gerechtere Basis stellen, beispielsweise auch mit Einnahmen aus einer Erbschaftsteuer. Zudem sollten versicherungsfremde Leistungen aus den Pflegekosten herausgenommen und anders finanziert werden.
Schon lange sprechen wir hier von einem zukunftsfähigen, sachgerechteren und sozial gerechteren notwendigen neuen Mix in der Finanzierung der Pflege. Die Erhöhung der Beiträge für Kinderlose, die der Gesundheitsminister einbringt, kann ein erster kleiner Baustein sein – mehr aber nicht.
Pflege-Crash vermeiden
Wenn ein Crash tatsächlich vermieden werden soll, müssen wir nun schnell viel grundsätzlicher über die Finanzierung und die Organisation der Pflege sprechen. Die Zahlen sind ja keineswegs geheim. Nicht nur die Fachleute in der Diakonie rechnen vor: Zum Jahresende 2022 verzeichnete die Pflegeversicherung ein Minus von rund 2,2 Milliarden Euro. Bereits im Jahr 2021 standen Einnahmen von 52,50 Milliarden Euro, Ausgaben von 53,85 Milliarden Euro gegenüber. Grund für die Schieflage sind vor allem die Kosten der Pandemie und die Zunahme der Anzahl an pflegebedürftigen Menschen. Und diese Zahlen werden mit dem demografischen Wandel weiter ansteigen.
Schon heute sind rund 4,8 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Von ihnen werden 70 Prozent, rund 3,9 Millionen, zuhause von Angehörigen betreut. Überwiegend von Frauen. Sie kommen in den ministeriellen Überlegungen zwar vor, aber es beschämt doch, wie sie vorkommen: um 5 Prozent soll das Pflegegeld, das zuletzt 2017 erhöht wurde, im kommenden Jahr steigen. Viel zu wenig, um nur die Inflation auszugleichen. Insgesamt wird die häusliche Pflege viel zu wenig unterstützt. Dazu gehört auch eine bessere Absicherung bei der Rente – die ja auch aus der Pflegeversicherung finanziert wird.
Caring Community
Außerdem befinden sich die klassischen familiären Strukturen als bisherige Basis der Häuslichen Pflege ebenfalls in einem grundlegenden Wandel. Wir brauchen auch hier dringend eine breite Diskussion darüber, wie die alternden Babyboomer alt werden wollen, und welche Formen von Versorgung dazu passen?
Ich bin überzeugt, dass es hier ein neues Zusammenspiel von verantwortlicher Zivilgesellschaft, digitaler Unterstützung und professioneller Pflege braucht, sonst werden wir bei diesen Fragen alle zusammen politischen Konkurs anmelden müssen.
Bereits der siebte Altenbericht der Bundesregierung von 2016 sprach wegweisend von Caring Communities, von sorgenden Gemeinschaften, in denen wir alle Verantwortung und Sorgearbeit für unsere Alten mit übernehmen sollten.
Solidarische Pflegeversicherung
Erst in der vergangenen Woche haben die drittgrößte Krankenkasse in Deutschland DAK, der Deutsche Landkreistag und Diakonie Deutschland gemeinsam die Ergebnisse einer FORSA-Umfrage präsentiert und darauf aufmerksam gemacht, dass die große Mehrheit der Bevölkerung sich eine starke solidarische Pflegeversicherung wünscht, die die wesentlichen Pflegekosten übernimmt, so dass Zuzahlungen kalkulierbar bleiben.
Anders als der Gesundheitsminister haben große Teile der Bevölkerung begriffen, dass die Organisation und Finanzierung der Pflege, die Absicherung eines existenziellen Lebensrisikos, das uns alle betrifft, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die unser aller Bereitschaft zur Mitverantwortung erfordert. Altersgruppenübergreifend und quer durch alle politischen Lager muss die Zukunft der Pflege und die Lebensqualität unserer Alten endlich einen angemessenen Platz in der öffentlichen und politischen Debatte bekommen.
Wer trägt die Konsequenzen?
Es macht einigermaßen fassungslos, dass Karl Lauterbach nicht bereit ist, in der Bundesregierung dafür zu kämpfen – für die Pflegebedürftigen, für die pflegenden Angehörigen und für die Beschäftigten, die so wertvolle und unverzichtbare Arbeit leisten und seit Jahren an ihre Belastungsgrenzen gehen.
Sie alle tragen die Konsequenzen dieser halbherzigen, kurzsichtigen Politik und baden jeden Tag aus, dass der Gesundheitsminister sich scheut eine Pflegereform auf den Weg zu bringen, die ihren Namen verdient und zu echten Entlastungen führt.