„Wie bestimmt man die Stunde, in der die Nacht endet und der Tag beginnt?“, fragt ein Rabbi seinen Schüler, erzählt eine chassidische Geschichte. Die Antwort: „Es ist dann, wenn du ins Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und darin deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin ist noch Nacht bei uns.“
Seit meiner Teilnahme bei der eindrucksvollen Kundgebung „Aufstehen gegen Terror, Hass und Antisemitismus – in Solidarität und Mitgefühl“ am vergangenen Sonntag denke ich über die verbindende Kraft der Barmherzigkeit nach. Genauer, seit Rabbiner Yitshak Ehrenberg nach einer Schweigeminute für die Opfer des Massakers der Hamas einen Psalm betete, ein Kaddisch sang, ein traditionelles Gebet für die vielen Toten, und über die drei Bedeutungsebenen des Wortes Schalom zu uns sprach.
Gegen Gewalt
Er wies uns alle, die wir da vor dem Brandenburger Tor standen, darauf hin, dass Schalom für jüdische Menschen nicht nur „Guten Tag“ bedeute und eine umfassende Vokabel für den Frieden zwischen Menschen, Völkern, Ländern sei, sondern außerdem ein heiliges Wort – einer der Namen Gottes: „Gott ist Schalom“, sagte Ehrenberg, „Gott ist gegen Gewalt – und nur so kann die Welt existieren.“
„Gott ist Schalom“ erinnert mich daran, dass das menschliche Mühen um Frieden und die menschliche Unfähigkeit, Frieden zu halten, nicht das letzte Wort haben. Die Arbeit und das Scheitern am Schalom bleiben eingewoben in den umfassenderen Frieden, der Gott ist. Das ist tröstend und unbequem zugleich. Das ruft uns dazu auf, dranzubleiben, am Schalom und ihm nachzujagen, wie Paulus es einmal formuliert. Unfrieden, Gewalt – dürfen uns religiöse Menschen nie in Ruhe lassen, müssen uns beschäftigen und immer wieder neu beunruhigen. „Gott ist gegen Gewalt – und nur so kann die Welt existieren.“
Eigenschaft Gottes
In diesen Horizont gehört für mich auch das Nachdenken über Barmherzigkeit. Auch Barmherzigkeit ist in allen abrahamitischen Religionen zuerst eine Eigenschaft Gottes: „Barmherzig und gnädig ist Gott, geduldig und von großer Güte“ singt der Psalmist (Ps 103, 8). „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist“ (Luk 6,36), lehrt Jesus Christus, und 113 der 114 Suren des Korans beginnen mit der Formel „Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen, des Allerbarmers“.
In beiden semitischen Sprachen, dem Hebräisch des Ersten Testaments und im Arabischen des Korans, leitet sich das Wort Barmherzigkeit von der Vokabel für Mutterschoß her. Ich denke an die Mütter der Ermordeten, Geschändeten und Verschleppten, an ihre unermessliches Leid. So möchte ich mir Gottes Liebe, Gottes Schmerz vorstellen.
Im Vertrauen auf diese „Mutterschoßigkeit“ Gottes kann sich menschliche Barmherzigkeit entfalten, auch in schwierigsten und alles herausfordernden Situationen. Menschen können barmherzig sein, Menschen können Mitgefühl empfinden und entsprechend handeln – trotz alledem.
Menschlichkeit und Mitgefühl
Unsere Menschlichkeit – folgt man der Idee der hebräischen Bibel, dass wir Menschen als Ebenbilder dieses Gottes gemeint sind – verwirklicht sich in Barmherzigkeit. Und es gibt keine Humanität ohne Mitgefühl für jeden Menschen – vorausetzungslos und unterschiedlos: „Wenn du ins Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und darin deine Schwester oder deinen Bruder siehst, beginnt der Tag.“ Auf diesem Weg unterwegs zu sein und zu bleiben, kann zur Zumutung werden.
Am Sonntag vor dem Brandenburger Tor konnten sich die Teilnehmenden ihres Mitgefühls und ihrer Tränen kaum erwehren, als die Angehörigen der Verschleppten sprachen und ihre Angst und Sorgen mit uns teilten. Da wurde nicht nur schrecklich konkret, nachfühlbar, miterlebbar wie furchtbar die Hamas gewütet hat und wie rein gar nichts dieses Wüten mit den politischen Anliegen des palästinensischen Volkes zu tun hat.
Es wurde auch erlebbar, dass Mitgefühl eine große, eine verbindende Kraft ist. Viele der Demonstrierenden, die ja zu den unterschiedlichsten Lagern aus Politik und Zivilgesellschaft gehörten, hatten Tränen in den Augen. Wer das als Sentimentalität abtut, hat nicht verstanden, wie Frieden beginnt.
Tor zur Hölle
Es gibt keine Humanität ohne Mitgefühl. Die Mörder vom 7. Oktober waren Männer ohne jedes Mitgefühl. Keine Tiere oder Bestien, wie viele sagen, sondern Menschen. Menschen, die sich dafür entschieden haben, mordend, vergewaltigend, brandschatzend über andere Menschen herzufallen – weil sie jüdisch sind. Männer, die sich dafür entschieden haben, über 200 Menschen zu entführen und in Geiselhaft zu nehmen – einfach, weil sie jüdisch sind. Männer, die sich auch dafür entschieden haben, die 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen, die Hälfte von ihnen Kinder, in ein noch tieferes Elend zu stürzen.
„Was ich sehe, zerreißt mir das Herz“, hat EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus am Sonntag in Berlin gesagt, „und es muss immer und immer wieder ausgesprochen sein: Wir sind solidarisch mit Israel. Wir sind solidarisch mit euch, den Jüdinnen und Juden in Deutschland.“ Und sie sagte auch: „Freundinnen und Freunde des Lebens! Gott ist ein Gott des Lebens – oder er ist nicht Gott. Das ist die Grundgewissheit des Lebens – und zwar in allen Religionen. Wer diese Wahrheit verlässt – in Hass oder Verblendung – der öffnet das Tor zur Hölle.“ – Dem muss Einhalt geboten werden.
Spirit der Barmherzigkeit
Und wir brauchen in all unseren Debatten, im Kampf gegen Antisemitismus, Hass und Gewalt, in der Verteidigung der Humanität nichts notwendiger, als diesen Spirit der mitmenschlichen Barmherzigkeit, den die abrahamitischen Religionen des Lebens hüten. Denn ohne Mitgefühl gibt es keine Humanität. Und auch keinen Frieden.