Bitte Lesen: Die Gesellschaft der Singularitäten

„Wohin wir auch schauen in der Gesellschaft der Gegenwart: Was immer mehr erwartet wird, ist nicht das Allgemeine, sondern das Besondere. Nicht an das Standardisierte und Regulierte heften sich die Hoffnungen, das Interesse und die Anstrengungen von Institutionen und Individuen, sondern an das Einzigartige, das Singuläre“, so beginnt der Kultursoziologe Andreas Reckwitz sein neues, jetzt schon preisgekröntes Buch zum Strukturwandel in der Moderne. Titel: „Die Gesellschaft der Singularitäten“.

Menschenmenge
Menschenmengen auf einem Weihnachtsmarkt – durch sein Buch ermöglicht Reckwitz‘ den Lesern, in dem gesellschaftlichen „Wimmelbild“, in dem wir uns bewegen, eine Struktur zu entdecken. ©yuuka1 CC 2.0 via

Ich lese es gerade und bin fasziniert von dieser klugen soziologischen Analyse, die mir hilft, manche Verwerfung in unserer Gesellschaft besser zu verstehen: Phänomene wie Pegida oder Castingshows, Barcelona-Hype und Prenzlauerberg-Chic, Entsolidarisierung oder Aggressivität in den Sozialen Medien gewinnen einen Zusammenhang.

Reckwitz‘ unaufgeregte Draufsicht ermöglicht, in dem gesellschaftlichen „Wimmelbild“, in dem wir uns bewegen, eine Struktur zu entdecken. Und das ohne ideologische Zuschreibungen oder moralische Vorverurteilungen. Sein Ansatz: Der Fall des eisernen Vorhangs mit allen Folgen, Globalisierung und Digitalisierung haben seit den Achtzigerjahren die Tektonik unserer Gesellschaft verschoben. Es ist eine neue Klassengesellschaft mit neuen Problemen entstanden, die nicht in den Blick bekommt, wer allein ökonomische Maßstäbe anlegt. Die neue „herrschende“ Klasse nennt Reckwitz „Akademische Mittelschicht“. Die Macht dieser Klasse, zu der rund 30 Prozent der Gesellschaft gehören (ich und Sie vielleicht auch), begründet sich weniger auf ökonomischer Macht. Die „Welt-Herrschaft“ dieser urban geprägten, international mobilen Klasse wirkt vielmehr kulturell. Sie dominiert die Diskurse in Medien, Marketing, Kulturbetrieb und Politik und hat großen Einfluss auf die Prozesse, in denen beschrieben wird, was in der Gesellschaft wertgeschätzt und was als „wertlos“ erfahren wird.

Zum Beispiel: Berlin toppt Bielefeld, Studium schlägt Ausbildung, Kleinstadt geht gar nicht, aber Kleingarten geht wieder; Smoothie ist „besser“ als Schnitzel, Startup cooler als Familienbetrieb etc. etc. Was fast kindisch klingt, folgt – so Reckwitz – einem unhinterfragten „Gesetz“: Nur, was als einzigartig, als singulär wahrgenommen wird, hat Wert. Und das gilt für Menschen und Dinge wie für Orte und Kollektive. Mit Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Burnout und Depressionen etwa sind ein hoher Preis, den Individuen und Gesellschaft unter Einzigartigkeitsdruck zahlen. Andererseits erfahren Lebensentwürfe, Lebensleistungen, Normalbiografien, die bis in die Achtzigerjahre noch ein sehr gutes gesellschaftliches Standing hatten, seit Jahrzehnten Entwertung. Auch das bleibt nicht folgenlos – etwa für den Stolz der „Nichtakademischen Mittelklasse“, ebenfalls rund 30 Prozent der Bevölkerung. Wie reagieren Menschen, deren Stolz verletzt und denen die Wertschätzung dauerhaft verweigert wird? Es scheint mir jedenfalls sinnvoll, die Aggressivität, die in unserer Gesellschaft spürbar wird, vor dem Hintergrund dieser Analyse zu verstehen. Als Symptom eines kulturellen Klassenkampfes, bei dem es auch um die Frage geht: Was macht den Wert eines Menschen aus?

Das Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ hat fast 450 Seiten, es ist also unmöglich dem komplexen Gedankengang im Blog gerecht zu werden, aber ich möchte wirklich dafür werben, sich mit diesem bemerkenswerten Buch zu beschäftigen.

Unter Einzigartigkeitsdruck

Als evangelischer Christ lese ich Reckwitz‘ kluge Analyse vor dem Hintergrund meines Glaubens: Eine biblische Setzung, die mir sehr am Herzen liegt, besteht darauf, dass der unveräußerliche Wert jedes Menschen darin besteht, immer schon ein singuläres Ebenbild Gottes zu sein. Dieses Menschenbild geht davon aus, dass niemand sich seinen oder ihren Wert (vor Gott) erarbeiten kann. Persönlichkeitsentwicklung, Lebensleistung sind mehr als ein „nice to have“, aber sie machen keinen Menschen wertvoller. Sie sind im Grunde ein verantwortetes Echo auf die geschenkte Ebenbildlichkeit Gottes, die im Hipster und der Obdachlosen, in der Politikerin und im Pegida-Spaziergänger verborgen ist. Dieser zugesprochenen Ebenbildhaftigkeit zu entsprechen zu versuchen, ein „eigener Mensch zu sein“ (Wolfgang Huber), hat eine andere Qualität, als der Stress, den viele Menschen sich machen, um ein einzigartiges, wertvolles Leben zu leben. Reckwitz spricht hier von „kuratierten Biografien“.

Ich frage mich, ähnelt dieser Einzigartigkeitsdruck heute dem Stress, den Martin Luthers Zeitgenossinnen und -genossen damals in der mittelalterlichen Welt hatten, um „ihren“ Gott gnädig zu stimmen? Die Angst, nicht gut und besonders genug zu sein. Luthers reformatorische Entdeckung, dass Gott Gerechtigkeit schenkt, korrespondiert mit der Idee der Ebenbildlichkeit. Es könnte spannend werden, wenn Christinnen und Christen diese entlastende Erfahrung in unserer „Gesellschaft der Singularitäten“ zur Diskussion stellen. Und wenn wir dabei lernen würden, mit unseren Bewertungen vorsichtiger umzugehen und stattdessen verstehen zu lernen: Auch, was unsere Selbstverständlichkeiten mit wirklich Anderen machen.