Als „klammste Kommune Deutschlands“ hat das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ jüngst die Stadt Herten im Kreis Recklinghausen bezeichnet: Der ehemaligen Bergbaustadt im nördlichen Ruhrgebiet sieht man an, dass der Strukturwandel nicht geschafft ist.
An der Durchgangsstraße Spielhallen und Billigläden, und an der Ecke ein ehemaliger Hochbunker. Hinter dessen dicken Mauern arbeitet nun auf mehreren Etagen die Diakonie. Herten – genau der richtige Ort, um unsere Veranstaltungsreihe zur Diakonie-Kampagne zu starten: die „Unerhört“-Foren.
Morgens um neun treffe ich im Tagesaufenthalt Menschen ohne Wohnung und höre mir Lebensgeschichten an. Ihre Geschichten. Berichte von Männern, die aus ihren bürgerlichen Leben gerissen wurden. Erst starb die Mutter, dann ging die Ehe in die Brüche. Familie kaputt, Job verloren, der Griff zur Flasche. Irgendwann war dann auch die Wohnung weg. Heute übernachtet Herr K. in der städtischen Notunterkunft. Drei Betten pro Raum, kein Kühlschrank, kein Herd.
Wohlstandskluft in NRW
Der Hertener Bürgermeister Fred Toplak, der am Vormittag ebenso wie die Lokalpresse zum „Unerhört“-Forum dazu stößt, hat diese Notunterkunft ein paar Tage zuvor besucht. Im Gespräch klagt das parteilose Stadtoberhaupt über die Gemeindefinanzierung in Nordrhein-Westfalen. Gerade kreisangehörige Kommunen sind benachteiligt gegenüber den großen Städten. „Soziale Verantwortung darf nicht abhängig sein von der Finanzlage“, sagt Herr Bürgermeister Toplak. „Da ist man auch als Bürgermeister unerhört.“ Vor allem in der Bundes- und Landespolitik. Erst recht, wenn der Haushalt wie der der hochverschuldeten Kommune Herten unter der Aufsicht des Regierungspräsidenten steht. Dann ist nur wenig mehr als die notwendigsten Pflichtausgaben erlaubt.
Die reiche Landeshauptstadt Düsseldorf ist keine Stunde entfernt. Hier floriert die Wirtschaft. Hier fließt das Geld – auch in die soziale Arbeit, in die kostenlose Kinderbetreuung. In Herten dagegen gibt es nichts „umsonst und draußen“. Gleichwertige Lebensverhältnisse – das ist ein Schlüssel für den sozialen Zusammenhalt in diesem ungleichen Land geworden. Und die Ungleichwertigkeit eine Gefahr für unsere Demokratie.
Für die Obdachlosen in Herten fängt die Politik im Kleinen an. „Es ist schön und tut gut, wenn jemand zuhört“, sagt zum Schluss des Treffens ein Teilnehmer. „Was draus wird, das muss man sehen.“ Die Lokalzeitung wird titeln: „Ich brauche einen Kühlschrank und Herd.“
Diakonie im Gespräch
Diakonie bringt die „Unerhörten“ ins Gespräch, so schafft sie die Basis zum Handeln. Zwei „unerhörte“ Lebensgeschichten aus Herten werden am Nachmittag im Diakoniegottesdienst in der Kreisstadt Recklinghausen vorgetragen – und als dritte die von Bartimäus, dem Blinden, den Jesus vor Jericho trifft. „Was willst Du, dass ich für Dich tun soll?“ fragt Jesus. Und heilt ihn. Zuhören, das steht am Beginn jeder diakonischen Arbeit.
Das „Unerhört“-Forum am 21. Juni in Herten und Recklinghausen war ein gelungener Auftakt für die Veranstaltungen im Rahmen der Diakonie-Kampagne. Die nächsten Foren stehen im August an, da gehe ich auf Sommerreise: nach Stuttgart, Frankfurt und Leipzig, nach Diepholz in Niedersachsen, nach Wilhelmshaven und Hamburg. Zuhören, In Gespräch kommen, Ansätze zum Handeln entwickeln. Was tun. Im Großen wie im Kleinen. Das will – und das kann Diakonie.