Es ist gar nicht so lange her, dass die Fläche, auf der heute unübersehbar das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung steht, eine Art Brache nahe einem Niemandsland war.
Wenige Meter entfernt von unserem heutigen Sitz trennte der Todesstreifen die heutige Hauptstadt. Unser Bürogebäude in Berlin am Nordbahnhof liegt in unmittelbarer Nähe zur Bernauer Straße und also zur Gedenkstätte Berliner Mauer.
Heute sehe ich auf dem Weg zur S-Bahn fast jeden Tag Gruppen von oft jungen Menschen aus aller Welt, die versuchen zu verstehen, was diese Mauer war; was es bedeutete, dass Stacheldraht und Minenstreifen Berlin, Europa – ja, die Welt – in Ost und West zerschnitten.
Demokratie – nie selbstverständlich
In Berlin begegnet einem die jüngere und jüngste Geschichte auf Schritt und Tritt. Die Gegenwart ist transparenter für die Vergangenheit, als ich das in meiner Heimatstadt Düsseldorf je empfunden habe. Die untergegangenen deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts sind buchstäblich spürbar.
Es ist gut, dass wir mit Brot für die Welt, Diakonie Katastrophenhilfe und Diakonie Deutschland in dieser ungemütlichen Nachbarschaft arbeiten und täglich daran erinnert werden: Denn Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Freiheit, Frieden, Versöhnung sind nicht einfach da. Und: Die Vergangenheit ist nie einfach vorbei.
Ab August wird uns und allen Gästen unseres Hauses diese Erinnerung noch näher rücken. Denn im Foyer unseres modernen, noch fast geschichtslosen Bürogebäudes wird das alte Uhrwerk der Evangelischen Versöhnungskirche – die Uhr der Versöhnung – eine neue Heimat finden.
Diese Turmuhr ist ein besonderes Geschenk, das unser aus dem Westen zugezogenes Werk künftig zu einem Ort der Geschichte der deutschen Teilung werden lässt. In dieser Woche haben wir das Uhr-Projekt bei uns im Haus vorgestellt – mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die erzählt haben, wie die Glocken ihrer Kirche plötzlich verstummten und die Zeit stehen blieb.
In Ost und West zerrissen
Warum blieb die Zeit auf dieser Uhr damals stehen? Die neugotische Versöhnungskirche, aus deren schlanken Turm das 2 Meter lange und 200 Kilogramm schwere Uhrwerk stammt, gibt es schon lange nicht mehr. Sie wurde auf Befehl der Staatsregierung der DDR im Januar 1985 gesprengt. 24 Jahre stand sie da bereits zu- und eingemauert auf dem Todesstreifen zwischen den Machtblöcken. Seit dem 13. August 1961.
Heute nur wenige Gehminuten von uns entfernt, damals unerreichbar für ihre Gemeinde, die in Ost und West zerrissen wurde. DDR-Grenztruppen missbrauchten den Turm als Geschützstand. Die Uhr stand still, ihre Zeiger wiesen fast ein Vierteljahrhundert lang auf 5 vor 12.
Eine trotzige Mahnung, erzählte uns der Pfarrerssohn und damalige Uhrenwart Jörg Hildebrandt – Witwer der volksnahen und streitbaren ersten Arbeits- und Sozialministerin Brandenburgs Regine Hildebrandt.
In einer wagemutigen nächtlichen Aktion machte er die Zeiger dieser Uhr zu einem weithin sichtbaren, stummen Mahnmal. Regine und Jörg lebten damals als Nachbarskinder in der Bernauer Straße an der noch durchlässigen Sektorengrenze.
Dass der Gemeinde vor der Sprengung gestattet wurde, Glocken und Uhrwerk zu bergen, hatte geradezu etwas Höhnisches. Ich glaube nicht, dass im Januar 1985 irgendjemand die Hoffnung hatte, dass diese Uhr jemals wieder schlagen würde.
Das Bild des in sich zusammensackenden Turmes im Mauerstreifen ging dann um die Welt. Die Vernichtung wirkte vollkommen.
Fünf vor Zwölf ist nicht zu spät
Aber es kam – Gott und vielen mutigen Menschen sei Dank – anders: der Mauerstreifen ist heute ein Erinnerungsort, den Schulklassen besuchen, die Versöhnungskapelle erinnert an die alte Kirche und in diesem Jahr wird die Versöhnungsgemeinde ihr 125-jähriges Gründungsjubiläum begehen.
Aus diesem Anlass soll das alte Uhrwerk am 28. August 2019 um 11 Uhr feierlich wieder in Betrieb genommen werden: im Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung. Dann tickt die Uhr wieder, die im Kaiserreich gebaut wurde, die durch Weimarer Republik, zwei Diktaturen und zwei Weltkriege die Zeit angezeigt hatte und 58 Jahre still stand – in unserem jungen Foyer.
Mich berührt das. „Zukunft braucht Herkunft“, hat der skeptische Optimist Odo Marquard einen Essayband überschrieben. Auf und aus Trümmern der Vergangenheit bauen wir eine hoffentlich bessere und freie Welt. Freiheit ohne Gerechtigkeit gibt es nicht, unser Einsatz für beides braucht einen langen Atem.
Und Fünf vor Zwölf braucht nicht zu spät zu sein. In diesem hoffnungsvollen Geist setzen sich Brot für die Welt genauso wie die Diakonie Deutschland für eine offene, gerechte und demokratische Zukunft für alle Menschen ein.
Gönn dir eine Minute
Übrigens: Derzeit wird das Uhrwerk restauriert, und die Versöhnungsgemeinde hat eine pfiffige Fundraising-Idee entwickelt: Sie verkauft die 720 Minuten, die auf dem Ziffernblatt einer Uhr von 0 bis 12 Uhr angezeigt werden können, für 45 Euro das Stück.
Der Erwerb jeder Minute unterstützt die Restaurierung des Uhr-Werks der Versöhnung, seine Wiederbelebung. Eine Urkunde gibt es auch. Vielleicht erinnern Sie ja auch einen besonderen Moment, dem Sie eine Gedenk-Minute widmen möchten? Und wenn Sie nach Berlin kommen, können Sie ab dem 28. August die Uhr der Versöhnung bei uns wieder ticken hören.
„Wissen und Erinnerung sind dasselbe“, hat Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble in seiner nachlesenswerten Rede zur Gedenkstunde des Deutschen Bundestages aus Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus gesagt.
Um Wissen und Erinnerung wachzuhalten, tickt ab dem Sommer dieses Jahres die Uhr des gesprengten Turms der Versöhnungskirche in unserem Foyer.