Twitter müsste für Losungsleserinnen und -leser eigentlich ein nachvollziehbares Medienformat sein. Denn was sind Losungen anderes als Bibel-Tweets? Kurze, aus dem Zusammenhang gerissene Sätze, die eine erstaunliche Breitenwirkung haben – jedenfalls in der evangelischen Welt.
Und Aussagen von Politikern wie Wolfgang Schäuble oder Katrin Göring-Eckardt zeigen, dass sie auch in politische Diskurse sickern können. Die Jahreslosung hat für solche Sickerungsprozesse mehr Zeit, als die biblischen Tages-Tweets aus Herrnhut. 2020 wird uns ein Satz aus dem Markusevangelium begleiten: Markus 9, 24: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“
Fremdsprache Christentum
2020, im Jahr der Losung, werden in Deutschland gerade noch 50 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Kirche angehören. Das ist Teil der Realität, auf die wir uns zu bewegen. Die christliche Glaubenssprache in ihren verschiedenen konfessionellen Dialekten wird immer mehr zur Fremdsprache.
Die Geschwister in Ostdeutschland leben schon lange in dieser Realität. Der Ostbeauftrage der Bundesregierung Christian Hirte weist gern darauf hin, dass der Osten dem Westen 30 Jahre voraus sei – bei der Demografie, aber auch bei gesellschaftlichen Prozessen wie in Kirchen, Gewerkschaften und Vereinen, bei denen wir sehen, dass die Bindekraft nachlässt. „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“. Was wird der Satz aus dem Markusevangelium in diesem gesellschaftlichen Umfeld bedeuten?
Kokette Stoßseufzer
Möglicherweise wirkt er wie der Stoßseufzer einer modernen Zweiflerin, eines Zweiflers. Fast dahingeplaudert, in komischer Verzweiflung. Glauben nicht alle irgendetwas? Auch wenn der Himmel für den modernen Menschen eher leer ist und die Kirchen ein Anachronismus, ist Spiritualität ja kein Schimpfwort: Meditations-Apps, Pilgerreisen, Yoga-Retreats, Kloster auf Zeit erfreuen sich großer Beliebtheit. Sieben Minuten oder gar ein Wochenende für die Seele.
Die Gottesdienste sind leer, aber der Mensch will etwas glauben oder wenigstens still werden und tiefer atmen. Ernsthaft, und doch auch mit einem Grinsen und Schulterzucken. „Hilf meinem Unglauben.“ Der Seufzer hat etwas von einem eloquenten Spiel mit der Paradoxie. Ein bisschen kokett, fast, könnte man meinen. Einerseits.
Sehnsucht nach Glauben
Andererseits fällt mir die sehnsüchtige Bemerkung einer Deutschlandfunkhörerin aus Dresden ein. Eine Enddreißigerin, Mutter zweier Kinder. Es ging um eine Radioandacht, die sie berührt hatte. Sie schrieb: „Ich glaube nicht. Jedenfalls nicht an Gott. Aber ich bin froh, dass es Menschen gibt, die das tun und die darüber sprechen. Ich würde so gerne glauben. Nur: Wie soll das gehen – mit fast 40 Jahren?“ – Sehnsucht und Ratlosigkeit halten sich die Waage. Ein Atheismus, der mit einer ungestillten Sehnsucht lebt: „Ich möchte glauben. Hilf meinen Unglauben.“
In der Geschichte aus dem Markusevangelium hat der Satz, der wie ein stiller Seufzer klingt, eine ganz andere Tonalität. Sie ist laut, aggressiv, verzweifelt. Wenn man den Vers im Kontext liest, verliert er alle Blassheit.Mit wenigen Worten zeichnet Markus eine dramatische Szene:
Mitten im Getümmel
Wir befinden uns mitten in einem Getümmel – Schriftgelehrte, die Vertrauten Jesu, eine Menschenmenge. Die Emotionen kochen hoch. Ein Wort gibt das andere. Im Zentrum ein Vater mit seinem sicher verschreckten, schwer behinderten Jungen. Er soll besessen sein. Stadtbekannt seine Anfälle mit Schaum vorm Mund, Zähneknirschen, Krampfanfällen, Ohnmacht. Ein böser Geist ist am Werk. Kinder wie dieses leben mit ihren Familien in sozialer Isolation.
Vermutlich gab es darum schon helle Aufregung, als Vater und Kind nur auftauchten unter den Leuten. Mich beeindruckt dieser Mann. Er begeht einen Tabu-Bruch: Mit unreinen Geistern spaßte man nicht. Sie galten als gefährlich. Ansteckend womöglich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen das hinnahmen. Vielleicht akzeptierten sie noch, dass er zu diesem Heiler und Lehrer wollte, über den alle Welt sprach. Ganz bestimmt aber eskalierte der Streit spätestens, als die Jünger zu heilen versuchten, und es nicht konnten.
Was für eine Szene, großes Kino: Der verzweifelte Vater, sein verängstigtes Kind, die spottenden, schreienden Menschen, die sich rechtfertigenden Jünger. Und dann: Auftritt Jesu. Ich kürze ab: Der Heiland ist unfreundlich, wirkt genervt – man weiß nicht recht von wem, verlangt schroff nach dem Kind, lässt sich die Krankengeschichte erzählen.
Schrei nach Glauben
Der Vater fleht ihn an: Wenn du etwas kannst, dann erbarme dich… – Jesus knurrt: „Alles ist möglich, dem der da glaubt.“ Und – vielleicht ist das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt – der Vater explodiert. Keine Spur von Selbstkontrolle. Er ist außer sich, er schreit: „Ich glaube. Hilf meinen Unglauben“. So dichtet Markus. Wer ist hier eigentlich der Besessene? – Das Bild friert ein. Ob er überhaupt weiß, was er gerade gesagt hat, dieser Mann?
Was sich in der Jahreslosung wie ein stilles Gebet liest, hat eine so ganz andere Temperatur. Es ist ein Schrei. Und die Worte, das verzweifelte Vertrauen, das aus diesem Schrei gepresst wird, sind nicht Ergebnis einer wohltemperierten theologischen Einsicht. Das Studium heiliger Schriften kommt gar nicht vor.
Dieser Glauben hat keine Alternative mehr. Er ist erlitten. Dieser Schrei wurzelt im ganzen bisherigen Leben dieses Vaters. „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“ spitzt das Leid zu, und wendet es wie eine Waffe gegen das unerträgliche Schicksal des Kindes und seiner ganzen Familie. „Wenn du kannst, dann erbarme dich.“
Trotz gegen die Enttäuschung
Das ganze bisherige Leben dieses Vaters: das ist die Liebe zu seinem kranken, vielleicht schlimmer noch: besessenen Kind. Die Verweigerung, die Hoffnung zu verlieren. Der Mut, sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegzusetzen und keine Peinlichkeit zu scheuen. Die Hartnäckigkeit, die sich nicht Abwimmeln lässt. Der Trotz gegen die Enttäuschung, die nicht das letzte Wort haben soll.
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ – Das ist die Essenz seiner Persönlichkeit. Verzweifeltes Vertrauen. Daher kommt die Kraft.
Die Jahreslosung 2020 ist ein Schrei. Und Jesus heilt.
Was brauchen Menschen im Jahr 2020? Sie brauchen mehr von der Leidenschaft dieses verzweifelten Vaters. Von dem Wissen, dass das Erlittene zu einer Kraft werden kann, die zum Heil führen wird. Wo begegnen wir Menschen, die sich Liebe, Hoffnung, Mut und Hartnäckigkeit nicht austreiben lassen? Die nicht einknicken vor den bösen Geistern, die was und wen wir lieben, kaputt machen? Die das Vertrauen nicht verlieren wollen, auch wenn alles dagegen spricht? Die ihren Unglauben so ernst nehmen, wie ihren Glauben?
Gottes Wunder geschehen
Wo diese Leidenschaft ausbricht, wo das Vertrauen lebendig ist, können Gottes Wunder geschehen, kann Jesus heilen. Davon gehe ich aus.
Und wenn es uns Christinnen und Christen dann noch gelingt diese Erfahrung in der Sprache des Glaubens zum Glänzen zu bringen – kann der Bibel-Tweet 2020 auf seine Weise viral gehen und dazu beflügeln, dieses paradoxe Vertrauen mitten in unserer Gesellschaft zu wagen.