Wissen Sie noch, wie sie lautete? Die Jahreslosung des Jahres 2012 – ich helfe Ihnen gern: Es war ein berühmtes Pauluswort aus dem zweiten Korintherbrief: „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ – Hand aufs Herz, wussten Sie’s noch?
Andacht im Rahmen der Konferenz Diakonie und Entwicklung am 16.10.2014 in Bremen zu 2. Korinther 12,9f.
Friede sei mit Euch von dem, der da war, der da ist und der da kommen wird. Amen
Liebe Geschwister,
wissen Sie noch, wie sie lautete? Die Jahreslosung des Jahres 2012 – ich helfe Ihnen gern: Es war ein berühmtes Pauluswort aus dem zweiten Korintherbrief: „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ – Hand aufs Herz, wussten Sie’s noch?
Die menschliche Fähigkeit des Erinnerns verlässt unsereins manchmal. Und wenn sie uns verlässt, dann in zuverlässiger Regelmäßigkeit in peinlichen und wenig beneidenswerten Situationen: Da schlendern Sie gedankenverloren durch die Stadt und treffen unverhofft auf eine alte Bekannte. Sie hat Sie längst erkannt, ruft freudig Ihren Vornamen aus, läuft auf Sie zu und lächelt Sie an. Und je näher sie kommt, desto heftiger und verzweifelter graben Sie in Ihrem Gedächtnis. Aber der Name will Ihnen einfach nicht einfallen: Hallo, guten Tag, und dann der falsche Name? – Das wäre jetzt wirklich der größte anzunehmende Unfall! Welchen Kniff nutzen Sie in solchen Situationen?
Da sitzen Sie vor dem Schalterbeamten und auf die harmlose Frage nach dem Geburtsdatum Ihres ersten Kindes hakt das Gespräch plötzlich. Es wird länger als angemessen still im Büro. Kennen Sie solche Aussetzer von sich? Oder gehören Sie zu den begnadeten mit einem geradezu fotografischen Gedächtnis?
„Die Schatten der Anfänge verfolgen mich noch immer, obwohl die Jahre einen gewissen Abstand hergestellt haben. Wenn ich aus dem Fenster hinunter auf den winterstarren Obstgarten schaue und daran zurückdenke, was mit uns passiert ist, überkommt mich das Gefühl eines vor langer Zeit begangenen Fehltritts. Die Krankheit des Vaters fing auf so verwirrende Weise langsam an, dass es schwierig war, den Veränderungen die richtige Bedeutung beizumessen.“ (Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil, Seite 19)
So beginnt das fabelhaft einfache und taktvolle Buch „Der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger. Es erzählt von seinem Vater August, dem die Erinnerungen langsam dauerhaft abhanden kommen und dessen Orientierung in der Gegenwart sich auflöst.
„In der Früh zog er sich nur halb, verkehrt oder vierfach an, mittags schob er die Tiefkühlpizza mitsamt Verpackung ins Rohr, und seine Socken deponierte er im Kühlschrank. Auch wenn wir das ganze Ausmaß des Schreckens weiterhin nur langsam erfassten, war uns irgendwann doch klar, der Vater lässt sich nicht hängen, sondern leidet an Demenz.“ (ebd.)
Wer sein Gedächtnis, wer die Kraft der Erinnerung und Orientierung verliert, kommt sich im Wortsinn „abhanden“, verliert sich, und das, was einen geschäftstüchtigen Menschen nach unseren Alltagsmaßstäben heute ausmacht. Mit Riechstörungen, Vergesslichkeit, zeitlichen Orientierungsschwierigkeiten, Schwierigkeiten beim Erkennen und mit Sprachstörungen – meldet sich das Krankheitsbild Demenz häufig an.
Gerade in der erst oft schwierig zu diagnostizierenden Phase der Erkrankung erleben das die betroffenen Menschen oft mit Schrecken, manchmal auch mit Achterbahn-Gefühlen von Panik.
„Lautlos focht der Vater den Kampf mit sich selber aus. Er machte keine Erklärungsversuche. Er machte keine Ausbruchsversuche.“ (ebd. Seite 24)
„Oft saß er allein im Wohnzimmer und seufzte. Mich erschreckte jedes Mal, wie verwundbar er wirkte, wie verlassen. Er hatte sich verändert, sein bedrückter Gesichtsausdruck sprach nicht mehr von der Verzweiflung darüber vergesslich zu sein, sondern von der tiefen Heimatlosigkeit eines Menschen, dem die ganze Welt fremd geworden war…. Wenn er sagte, dass er nachhause gehe, richtete sich diese Absicht in Wahrheit nicht gegen den Ort, von dem er weg wollte, sondern gegen die Situation, in der er sich fremd und unglücklich fühlte. Gemeint ist also nicht ein Ort, sondern die Krankheit, und die Krankheit nahm er überall an den Fußsohlen mit. …“ (a.a.O., Seite 56)
Ungefähr 1,2 Mio Menschen unter uns leiden heute wie August Geiger an dieser Krankheit. Demenz ist eine Volkskrankheit geworden, die jeden dritten Menschen zwischen 80 und 90 Jahren trifft.
Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Stellen Sie sich doch bitte einen Augenblick vor, wie dieser Leitsatz des Himmels in großen Buchstaben auf einer Plakatwand, auf einem Lieferauto wie in einem alten Schwarzweißfilm durch die Böttchergasse in Bremen gefahren wird.
Wie liest sich dieser Satz heute Morgen, wenn er über den noch wenig belebten Rathausplatz in Bremen gefahren wird; wie lässt er sich an im Menschengetümmel, in der langsam volllaufenden Stadt? Erntet er bei denen, die aktuell die Selbstbestimmung am Lebensende mit soviel Emphase proklamieren, eher ein mildes Lächeln?
Wie wird er wohl von pflegenden Angehörigen eines Menschen mit Demenz gelesen, die heute Morgen auf dem schnellen Weg zu Besorgungen sind, weil sie ihren Ehemann, ihre Frau oder den Onkel unbeaufsichtigt nicht so lange allein lassen können? Und wie verstehen die Enkelkinder diesen Satz, die heute Nachmittag auf dem Weg zu ihrem Opa sind und ihn besuchen wollen? Bringen sie selbst vielleicht eine Episode, eine Erfahrung aus ihrem Leben mit diesem Satz zusammen?
Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Wissen oder erahnen sie diesen Gott der Schwachen an ihrer Seite? Wenn wir selbst einen Zugang finden zu unseren eigenen Schwächen und Beeinträchtigungen, sagen uns die Fachleute, machen wir es den Menschen um uns herum mit ihren Schwächen auch leichter.
Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Schon zu Lebzeiten des Paulus war dies ein anstößiger Satz, liebe Geschwister. Schon seine Gegner und der größte Teil der Gemeinde in Korinth wollten von Schwäche, erst recht von Gottes Schwäche nichts wissen. Auch sie setzten lieber auf den glanzvollen rhetorischen Auftritt, auf die Weisheit, dem übermächtigen Zeitgeist der Antike. So verleugnet ihr euch um einen hohen Preis selbst, und ihr verleugnet den Menschgewordenen!, schleudert ihnen Paulus wutschnaubend entgegen. Ihr vermeidet das fragmentarische und gebrechliche menschliche Leben und bereitet gerade so dem Herrn nicht den Weg. „Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne“ (2. Korinther 12,9) – spitzt Paulus zu.
Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Dieser sieben-Wörter-Satz aus dem zweiten Korintherbrief des Paulus wechselt ja nach unterschiedlicher Umgebung und nach den Lebenssituationen seine Farbe. Aber er behält seine eigentümliche Leuchtkraft und sein Licht. Es ist das Licht vom Weihnachts- und vom Ostermorgen, das aus dieser zentralen Glaubenserfahrung des Apostel Paulus leuchtet. Licht von dem, dem es gefallen hat (wie es im Philipperbrief heißt) „den Menschen gleich zu werden“ und „Knechtsgestalt anzunehmen“ (Philipper 2,7).
Im Griechischen ist dieser sieben-Wörter-Satz noch knapper formuliert. Hier kommt er mit fünf Wörtern aus und lautet wörtlich übersetzt:
Meine Kraft in Schwachheit vollendet.
Meine Kraft kommt in der Schwachheit zu ihrem Ziel. Auch so wäre dieser Satz angemessen übersetzt. Und diesen Satz nachzusprechen, ihn für sich persönlich nachzubuchstabieren, heißt eigentlich ein Glaubensbekenntnis nachsprechen. Der Zuspitzer Paulus würde vielleicht sagen, d. h. den wichtigsten Satz im Bekenntnis mit anderen Worten nachzusprechen:
Gekreuzigt, gestorben und begraben.
Das Markusevangelium strotzt vor Heilungsgeschichten und Wundererzählungen. – Aber erst unter dem Kreuz erkennt der Hauptmann:
„Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“
Sichtbare oder gar zur Schau getragene Stärke ist für diesen Glauben kein tragfähiger Maßstab. Anders gesprochen: An durchtrainierten und gut gebauten Gazettenschönheiten, die vor eingebildeter Kraft im Scheinwerferlicht kaum stehen können, wird diese Welt nicht genesen. Auch religiöse Extrembergsteiger und Gurus des positiven Denkens machen auf die Strecke eines ganzen menschlichen Lebens gesehen nicht froh. Denn sie bieten maximal Perspektiven für einzelne – jedem gegönnte – Gipfelerlebnisse eines Lebens; mindestens die andere Seite aber, die oft größere Hälfte unseres Lebens, blenden sie aus:
„Ich habe mir die Hände gewaschen“, sagte der Vater einmal.“ War das erlaubt?“
„Ja, das ist Dein Haus und Dein Waschbecken.“
Er schaute mich erstaunt an, lächelte verlegen und sagte:
„Meine Güte, hoffentlich vergesse ich das nicht wieder!“
„Das ist Demenz. Oder besser gesagt, das ist das Leben – der Stoff, aus dem das Leben gemacht ist“ schreibt Arno Geiger und fährt fort: „ Alzheimer ist eine Krankheit, die, wie jeder bedeutende Gegenstand, auch Aussagen über anderes als nur über sich selbst macht. Menschliche Eigenschaften und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegeln sich in dieser Krankheit wie in einem Vergrößerungsglas. Für uns alle ist die Welt verwirrend, und wenn man es nüchtern betrachtet, besteht der Unterschied zwischen einem Gesunden und einem Kranken vor allem im Ausmaß der Fähigkeit, das Verwirrende an der Oberfläche zu kaschieren.“ (a.a.O., Seite 57).
Meine Kraft kommt in der Schwachheit zum Ziel.
Es hat dem Himmel gefallen, die Gestalt eines schwachen Menschen anzunehmen. So hilft er unserer Schwachheit auf. Wenn wir uns auf diese Seiten unseres Menschseins einlassen, wenn wir sie gelten lassen, entdecken wir auch unser eigenes Leben neu. – Mit allem, was uns ausmacht, ohne, dass wir uns selbst amputieren oder gar umbringen müssen.
Am 26. März 2009 ist in Deutschland die EU-Behindertenkonvention in Kraft getreten und hat eine breite Debatte über die Teilhabe-Möglichkeiten von Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen am gesellschaftlichen und kirchlichen Leben angestoßen. Kommunen, Bildungsträger, Diakonie und Kirche machen sich Gedanken, was wir zu solcher Teilhabe beitragen können. Vielleicht stellt uns die Einbeziehung unserer Alten und Verwirrten dabei vor die größten Herausforderungen. Auch weil es ein neues realistischeres und menschenfreundlicheres Lebensbild des Älterwerdens von uns selbst verlangt.
„Niemand will wissen, was ihm im Alter bevorsteht“, hat Max Frisch schon vor einem halben Jahrhundert in seinen Tagebüchern festgestellt. „Wir sehen es zwar aus nächster Nähe täglich, aber um uns selbst zu schonen, machen wir aus dem Alter ein Tabu…. Unser Respekt gilt in Wahrheit nie dem Alter, sondern ausdrücklich dem Gegenteil: Dass jemand trotz seiner Jahre noch nicht gebrechlich ist“ (Max Frisch, Tagebücher 1868 – 1957, Suhrkamp Gesamtausgabe Band 6, Seite 108f). Weil wir aber die Hälfte unseres Lebens das Älterwerden als innere Stimme kaum zu Worte kommen lassen, fixieren wir uns auf die äußerlichen, körperlichen Alterserscheinungen und versuchen, diese zu kaschieren: Den Ausfall der Haare, der Zähne, die Runzeln und die Falten unter den Augen. „Wir stürzen uns auf das, was trotz Tabu sichtbar wird“, so Max Frisch – „und lassen das durch Medizin oder Kosmetik beheben“ (ebd.).
„So löse ich mich auf und komme mir abhanden“, notiert der älter werdende Vater des modernen Essays, Michel de Montaigne, bereits im Jahre 1586 sachlich, als er seinen ersten Zahn verliert. Auf welche Gewissheit hin, mit welchen Erfahrungen und Überzeugungen im Rücken könnten wir das auch so aufrichtig sagen?
Wir zahlen einen hohen Preis, wenn wir die andere Seite unseres Lebens – und Paulus würde sagen – auch den Menschgewordenen – verleugnen und tabuisieren. Zunächst amputieren wir uns selbst, sagt Paulus, weil gebräunter Teint und straffe Haut eben keine wirklich tragende Antwort auf die Herausforderungen des Älterwerdens sind. Und auch die anderen, die Alten, zahlen einen hohen Tribut.
„Für meinen Vater ist seine Alzheimer-Erkrankung bestimmt kein Gewinn, aber für seine Kinder und Enkel ist noch manches Lehrstück dabei. Die Aufgabe von Eltern besteht ja auch darin, den Kindern etwas beizubringen. Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch das kann Vater- und Kindschaft bedeuten„ (Geiger ebd., Seite 78).
Gottes Kraft kommt in der Schwachheit zum Ziel.
Es gibt gute Gründe, Menschen und eine Gemeinschaft, die sich zunehmend ein Leben lang beim Blick in den Spiegel belügen und sich um das Eingeständnis ihrer eigenen Begrenztheit und der Erfahrung von Älterwerden und Schwäche herumdrücken, zu fürchten. Denn manchen fällt dann wirklich nur noch die Sterbehilfe als Antwort auf das Altern und Verwirrtwerden ein.
Gottes Kraft kommt in der Schwachheit zum Ziel. Das Glanzvolle und das gesamte menschliche Leben orientierende himmlische Licht, das von diesem sieben-Wörter-Satz auf uns Älterwerdende, auf Pflegende, auf Demenzkranke und deren Angehörige fallen will, das Licht des Stalles und des Ostermorgens, das himmlische Licht des Mensch gewordenen befreit uns und unsere Alten zum bejahten gebrechlichen Menschsein.
Meine Kraft kommt in den Schwachen zum Ziel. Diese Glaubenseinsicht des Paulus ist auch eine Art Vermächtnis an uns Nachgeborene.
Die Auseinandersetzung mit diesem sieben-Wörter-Satz kann sehr persönlich werden und manchmal, angesichts des Zeitgeistes, auch peinlich wirken. In jedem Fall aber ist sie heilsam.
„Was ich ihm gebe, kann er nicht festhalten. Was er mir gibt, halte ich mit aller Kraft fest.
Solche Stunden ziehen sich in die Länge, und ich habe viel Zeit, auf vieles Acht zu geben. Kaum etwas entgeht meiner Aufmerksamkeit, ich bin klar und geistesgegenwärtig, alle Dinge strömen mit einer Deutlichkeit auf mich ein, als verbreite sich plötzlich ein starkes Licht um mich her.
Der Vater überwachte mein Schreiben als wollte er sagen: Sitz‘ still, mein Sohn – Du musst Deine Lektion lernen!
Es gibt da etwas zwischen uns, das mich dazu gebracht hat, mich der Welt weiter zu öffnen. Das ist sozusagen das Gegenteil von dem, was der Alzheimer-Krankheit normalerweise nachgesagt wird – dass sie Verbindungen kappt. Manchmal werden Verbindungen geknüpft. Als das vereitelt wurde, was wir erhofften, da erst lebten wir.
Das Glück, das mit der Nähe zum Tod eine besondere Dichte erhält. Dort, wo wir es nicht erwartet hätten.“ (Arno Geiger AAO).
Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Amen.