Wann endet die Nacht?

Heute jährt sich der rassistische Anschlag von Hanau, und ich denke an eine Weisheitsgeschichte des chassidischen Judentums: „Wie bestimmt man die Stunde, in der die Nacht endet und der Tag beginnt?“, fragte einmal ein Rabbi seine Schüler.

Abgesperrter Tatort in Hanau
Nach dem Attentat von Hanau: Rassismus zu bekämpfen ist eine Gemeinschaftsaufgabe von demokratischem Rechtsstaat und Zivilgesellschaft. Foto: epd-bild/Tim Wegner

Die Schüler dachten kurz nach; dann war die Antwort des ersten heraus: „Ist es dann, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“ – „Nein“, sagte der Rabbi. „Vielleicht ist es dann, wenn man von weitem einen Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann“, erwiderte ein anderer Schüler. Doch der Rabbi schüttelte nur stumm den Kopf. „Aber wann soll es denn sonst sein?“, fragten die Schüler ratlos. Da neigte sich der Rabbi seinen Schülern zu und gab zur Antwort: „Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blickst und deine Schwester oder deinen Bruder erkennst. Doch bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“

Mörder unter uns

Am 19. Februar 2020 war finsterste Nacht. Der Mörder von Hanau war ein Nachbar in einem Reihenhaus. Ein vermutlich psychisch kranker Mensch, dessen monströs-menschenfeindlich rechtsextreme Ansichten in unserer Gesellschaft gedeihen konnten, und der sich in unserer Mitte unbehelligt darauf vorbereitet hat, wahllos, aber systematisch, acht Mitbürger und eine Mitbürgerin zu erschießen und viele andere zu verletzen. Warum? Weil er das für richtig hielt. Weil ihn niemand stoppte. Zum Schluss tötete er seine Mutter und sich selbst.

In den zurückliegenden Tagen gab es viele mediale Möglichkeiten, in die gezeichneten Gesichter der Angehörigen der neun Opfer und der Überlebenden zu schauen, ihre Stimmen zu hören, ihren Schmerz und ihre Wut wahrzunehmen. Wie muss sich das anfühlen, sich und seine Lieben in der eigenen Stadt als gehasst und mit dem Tod bedroht zu erleben?

Vor Hass schützen

Es ist erschütternd mit anzusehen, wie sich der verheerende Eindruck bei manchen von ihnen festsetzt, dass die staatlichen Institutionen, unsere Gesellschaft insgesamt, sie vor diesem Hass nicht ausreichend geschützt haben.

Dieses das Grundvertrauen und Grundfesten erschütternde Gefühl, dem Hass, der Diskriminierung ausgeliefert zu sein, erleben zu viele Menschen unter uns. Nicht nur in den migrantischen Communities. Hanau ist kein Einzelfall, sondern die furchtbare Eskalation einer menschenfeindlichen, rassistischen Haltung, die erschreckenderweise in allen Teilen unserer Gesellschaft Milieus findet, in denen sie gedeiht. Bis in die Parlamente hinein.

Verankerter Rassismus

Die Statistik des Bundeskriminalamts ist sprechend: Mehr als die Hälfte der 41.177 politisch motivierten Straftaten in Jahr 2019 sind der rechtsextremen Szene zuzuordnen.

Rassismus ist aber nicht nur eine Haltung extremer Individuen. Rassismus ist in unserem Land ein strukturelles Problem und durch Geschichte, Kultur, Sprache tief in unserer Gesellschaft verankert. Wer findet in der Schule die besseren Bedingungen? Welche Heldinnen ersinnt das Kino? Welche Sprüche am Spielfeldrand oder im Kindergarten werden toleriert? Wem wird eine Karriere in der Politik zugetraut?

Immer geht es auch um die alten, ewig gleichen Fragen: Wie und wo wird ausgegrenzt, abgewertet? Und: Bilden die Institutionen in unserem Land die vielfältige Wirklichkeit der Gesellschaft ab – oder nicht?

Aktive Gegenstrategien

Auch wir in Diakonie und Kirche müssen uns diesen „Immer-wieder-Fragen“ stellen, auch bei uns ist Diskriminierung möglich. Sie wird nur dort unwahrscheinlicher, wo wir uns dessen bewusst sind und aktiv an Gegenstrategien arbeiten.

Wir sind in der Diakonie auf diesem Weg engagiert unterwegs: Vielfaltsorientierung, Interkulturelle Öffnung und Inklusion sind Querschnittsthemen für alle unsere Arbeitsfelder.

Deutschlandweit setzen wir uns mit zahlreichen Projekten für eine starke Zivilgesellschaft und uneingeschränkte Solidarität mit Menschen ein, die von Diskriminierung, Antisemitismus und Rassismus betroffen sind. Auch in Hanau selbst gehören Mitarbeitende und Einrichtungen von Diakonie und evangelischer Kirche selbstverständlich zu dem breiten Bündnis für Vielfalt und gegen Ausgrenzung.

Diakonie vor Ort

Das evangelische Jugendzentrum in unmittelbarer Nähe des einen Tatorts in Hanau und das Weststadtbüro sind seit Jahrzehnten wichtige sozial-diakonische Anlaufstellen vor Ort. Die Mitarbeitenden haben dort in den vergangenen Monaten, oft ohne auf die Uhr zu schauen, nach Wegen gesucht, die Jugendlichen und ihre Familien in ihrer Trauer- und Trauma-Arbeit zu begleiten und mit ihnen einen Weg in einen lebbaren Alltag zu finden.

Solche sehr konkrete Arbeit mit den Menschen ist absolut unersetzlich, wenn es darum geht, in unserer zunehmend diversen Gesellschaft eine ansteckende Kultur der Wertschätzung von Vielfalt zu etablieren.

Macht der Finsternis

Denn, um auf den chassidischen Rabbi zurückzukommen: Überall, wo Menschen andere Menschen wegen ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe, ihrem Andersein verachten, sie ausgrenzen, ihnen schaden, ihnen den Weg zu Bildung, Arbeit, Gerechtigkeit, Mitbestimmung verstellen, wird es dunkel in Deutschland – regiert die Macht der Finsternis.

Rassismus und all die anderen „-ismen“ und Feindseligkeiten – Antisemitismus, Sexismus, Islamo- oder Homophobie – vergiften, ja zerstören das Leben von Menschen, und zerstören und vergiften unsere Gesellschaft.

Darum ist wenig wichtiger, als diese finstere, lebens- und gesellschaftszerstörende Macht der Herabsetzung und der Feindschaft in ihre Schranken zu weisen und ihren Verfechter*innen klare Grenzen zu zeigen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe des demokratischen Rechtstaats und der demokratischen Zivilgesellschaft.

No-Go für Christenheit

Christinnen und Christen können hier nur auf einer Seite stehen. Gerade vor dem Hintergrund der monströsen Schuldgeschichte der Christenheit kann jede Form des Rassismus, der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, nur eins sein: ein No-Go, dem wir an allen Orten, wo wir mit anderen zusammen leben und arbeiten, entschieden widersprechen und entgegentreten.

„Liebe deinen Nächsten – er ist wie du“, so übersetzt der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber das Gebot der Nächstenliebe. Das ernst zu nehmen und dafür zu sorgen, dass diese Einsicht zwischen den Menschen und in den Strukturen unserer Gesellschaft leuchtet, ist unsere vornehmste Aufgabe. Solange, bis alle ohne Angst verschieden sein können, bis für alle unter uns lichter Tag werden kann.