Es geht um geliebte Menschen und um ihre Würde: Beim Altwerden und am Arbeitsplatz. Es geht aber auch um sehr viel Geld und um die Frage, wo es herkommen soll – dieses Geld. Wieviel ist es uns wert, dass unsere alten, gebrechlichen und kranken Mitmenschen gute Pflege erwarten können? Und zwar gleichgültig, wo sie gepflegt werden: zuhause, in einer stationären Einrichtung, im Krankenhaus oder in einer Tages- oder Kurzzeitpflege.
Die Pflegeversicherung wurde als jüngste Säule der Sozialversicherung 1995 gegründet. Anders als die Krankenversicherung oder die Rentenversicherung wird sie ausschließlich durch Mitgliedsbeiträge finanziert und erhält bisher keine Steuerzuschüsse.
Die Pflegeversicherung ist auch die einzige Sozialversicherung, die das Lebensrisiko Pflegebedürftigkeit nur teilweise absichert. Wird jemand pflegebedürftig, übernimmt die Versicherung nur einen Teil der Pflegekosten. Der größere Teil wird durch private Pflegearbeit oder eigene finanzielle Leistungen erbracht.
Pflege eine Privatproblem?
Das ist längst ein großes Problem: Denn dieses System entzieht die Pflegearbeit der öffentlichen Verantwortung und überträgt diese weitestgehend ins Private. Das bedeutet auch in diesem Fall: auf Frauen. Denn zuständig für die Pflege erklären sich meist die Frauen in einer Familie, die dafür berufliche Weiterentwicklung und Einkommen aufgeben.
Oder man denke an die osteuropäische Haushaltshilfen, die zu zigtausenden in den Haushalten von pflegebedürftigen Menschen leben und arbeiten, ohne selbst angemessen entlohnt oder behandelt zu werden. Ein Schatten der Freizügigkeit in Europa mit fatalen Folgen für die „Pflegewaisen“ in vielen Ländern Osteuropas, deren Mütter im reichen Deutschland unter oft unzumutbaren Bedingungen zu Billiglöhnen pflegen und betreuen.
Als Diakonie sagen wir darum: Wie wir alt werden wollen und wie wir Pflege organisieren wollen, das ist eine Frage an uns alle. Entweder, weil jemand in unserem Umfeld pflegebedürftig ist, oder weil wir selbst irgendwann pflegebedürftig werden. Wir müssen dringend einen überzeugenden gesellschaftlichen Umgang damit finden. Das bedeutet, dass wir nicht nur über die Finanzierung sprechen sollten, sondern vor allem über die Bedeutung, die Pflege und Fürsorge in unserer Gesellschaft haben sollen.
Sorgende Gemeinschaft?
Sind wir als Gesellschaft tatsächlich eine „sorgende Gemeinschaft“?
Darüber müssen wir uns nicht nur heute austauschen – am Tag der Pflege. Und nicht nur in der Politik oder unter Pflegeprofis. Denn hinter der Frage nach dem „Wie“ einer umfassenden und nachhaltigen Pflegereform steht eine sozialpolitische Grundsatzfrage nach Verantwortung und Gerechtigkeit, über die wir uns als Gesellschaft zu verständigen haben.
Es sind sehr viele Fragen offen: Was verstehen wir unter guter Pflege, und wer trägt die Verantwortung dafür, dass sie allen zugänglich ist? Was sind wir selbst bereit, dazu beizutragen?
Es lähmt die politischen Prozesse, dass die weitsichtige Klärung dieser Grundsatzfragen vor lauter medienwirksamem Klatschen aus dem Blick geraten ist. Es gibt eine auf vorteilhafte Tagesschaumeldungen schielende Kurzatmigkeit in der Debatte, die nicht zu Ende gedachte und schnelle Ergebnisse hervorbringt. Das gefährdet aktuell den Erfolg einer dringend notwendigen Pflegereform, die diesen Namen verdienen würde.
Komplexe Materie
Erschwerend kommt hinzu, dass die Materie so komplex ist, dass es keine einfachen und raschen Lösungen gibt. Man kann nicht „eben“ an einer Stellschraube drehen, um den Pflegenotstand mittelfristig zu beheben. Alles hängt mit allem zusammen in unseren komplexen Versicherungs- und Gesetzeswerken: Natürlich bedingen die schlechten Löhne, die wegen schlechter Personalschlüssel ausgebrannten Teams und die immer noch mangelhafte Wertschätzung pflegerischer Professionalität etwa den katastrophalen Mangel an Fach- und Hilfskräften in der Pflege.
Darum braucht es echten politischen Gestaltungswillen und wahrhaftige politische Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung. Es gilt, das System als Ganzes neu zu denken und in klugen Schritten, nach und nach, aber eben mit systematischen Weitblick, zu verändern.
Verlässliche Refinanzierung
Die Diakonie Deutschland fordert seit Jahren, dass alle Mitarbeitenden in den Pflegeberufen endlich einen angemessenen und gerechten Lohn für ihre Arbeit erhalten – nicht nur heute am Tag der Pflege – und weist darauf hin, dass das eine verlässliche und gerechte Refinanzierung braucht. Unabhängig davon, ob sie bei öffentlichen, privaten, kirchlichen oder anderen gemeinwohlorientierten Pflegeanbietern angestellt sind.
Der Gesetzgeber muss dabei immer für zwei wichtige Seiten sorgen: Es darf nicht sein, dass die Kostenträger, die Kassen, sich am „billigsten“ Angebot orientieren u n d die entstehenden Kosten dürfen nicht einfach privatisiert und auf die Pflegebedürftigen abgewälzt werden. Gute Pflege kostet gutes Geld! Aber nicht nur Wohlhabende „verdienen“ gute Pflege.
Konstruktiver Vorschlag
Der Vorstoß des Bundesarbeitsministers Hubertus Heil (SPD) für ein „Pflege-Tariftreue-Gesetz“– ist darum ein konstruktiver Vorschlag, bei dem die Diakonie Deutschland sehr gut mitgehen kann. Ein Pflege-Tariftreue-Gesetz könnte tatsächlich die Basis dafür sein, dass endlich alle Mitarbeitenden in den Pflegeberufen einen gerechten Lohn für ihre Arbeit erhalten. Denn ein Tariftreue-Gesetz würde bedeuten: Tarifbindung für alle. Mit einer Tarifbindung von über 90 Prozent im Pflegebereich kann sich die Diakonie hier bereits jetzt schon sehen lassen.
Aber: In einem solchen Gesetz muss auch festgelegt werden, dass die Pflegeversicherung nicht die niedrigsten Tarifverträge in der Branche als Basis für ihre Abrechnungen heranzieht. Wie bisher müssen alle ordentlich vereinbarten Tarifverträge – auch die kirchlichen – gegenfinanziert werden. Sie gehören in der Regel zu den besten in der Pflegebranche. Das ist seit weit über einem Jahrzehnt geltendes Recht und hinter dieses darf nicht zurückgegangen werden.Außerdem muss eben sichergestellt werden, dass die höheren Kosten der Pflegeversicherung nicht durch steigende Eigenanteile auf die Pflegebedürftigen oder auf die Kommunen abgewälzt werden.
Tönerne Füße
Hier krankt auch der jüngste Vorschlag aus dem Haus von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Die Finanzierbarkeit des Gesetzes zu Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GWGV) steht auf tönernen Füßen. Er belastet Menschen, die die Pflege brauchen, mit unkalkulierbaren finanziellen Belastungen. Ohne eine Deckelung der schon jetzt kaum noch bezahlbaren Eigenanteile der Pflegebedürftigen bleiben die Vorschläge Flickwerk.
Denn jede Kostensteigerung für die dringend notwendigen Verbesserungen im Pflegesystem bleiben damit weiterhin an den Betroffenen hängen – oder nötigen ausgerechnet die Kommunen, in denen besonders viele Menschen leben, die ihren Eigenanteil nicht aufbringen können, mit Hilfe zur Pflege einzuspringen. Das ist eine ungerechte und überhaupt nicht einleuchtende öffentliche Bezuschussung eines nicht gerechten und nicht überzeugenden Systems.
Recht auf gute Pflege
Wir in der Diakonie halten es für fragwürdig, die Frage nach Gerechtigkeit und Verantwortung, die im Hintergrund steht, auf diese Weise zu beantworten: Es darf in unserer älter werdenden Gesellschaft des langen Lebens doch keine Frage der Möglichkeit oder Unmöglichkeit zur privaten Vorsorge sein, ob wir uns gute Pflege leisten können, wenn wir hinfällig und pflegebedürftig werden. Alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Land haben ein Recht auf gute Pflege und eine Pflicht dabei mitzuhelfen, dieses Recht für alle zu ermöglichen.
Wichtig ist deshalb, eine gerechte Verteilung der Lasten auf alle Versicherten, nicht nur auf die Pflegebedürftigen. Dies wäre mit einer Pflegevollversicherung möglich, welche die Eigenanteile klar begrenzt. Die Diakonie Deutschland hat dazu umfangreiche und finanzierbare Vorschläge gemacht.
Natürlich unterstützen wir als Diakonie Deutschland grundsätzlich die Reformbemühungen der Bundesregierung. Sie sind dringend notwendig und schon lange erwartet. Aber wie unser Sozialvorstand Maria Lohheide es formuliert hat: „Eine Reform muss zum Nutzen aller sein und darf nicht zum Schaden der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen werden.“
Würde sichern
Es geht um unsere Alten, also um uns alle, die wir älter werden. Die Frage nach der Zukunft der Pflege ist eine Frage der Würde – im Alter genauso wie am Arbeitsplatz in der Pflege. Diese Würde zu sichern, kostet gutes Geld. Es ist unsere Entscheidung, ob wir es bereitstellen wollen.