März 2022. Ein sonniger, milchiger Frühlingsmorgen im westukrainischen Lviv. Sirenen heulen über der Stadt. Die Zigarettenpause auf dem Balkon der Kinderklinik geht dennoch weiter. Schon die ersten Minuten des beklemmenden Dokumentarfilms „Ukraine – Kriegstagebuch einer Kinderärztin“ aus der ARTE-Mediathek zwingen mich mitten hinein in die Abgründe und Absurditäten dieses furchtbaren Krieges.
In der vergangenen Woche tagte der Programmbeirat von ARTE Deutschland in Mainz. Als Diakonie-Präsident gehöre ich seit 2020 mit 60 anderen Vertreter:innen des öffentlichen Lebens dem ZDF-Fernsehrat an und bin von diesem für diese Aufgabe bei ARTE gewählt worden. Wir treffen uns viermal im Jahr und beraten Geschäftsführung und Redaktionen in Programmfragen.
Großes Kapital
Dieses Mal haben wir uns mit der Berichterstattung von ARTE über den Ukrainekrieg beschäftigt. Auch mit der Frage, wie man bei aller Solidarität objektiv bleiben kann. Die ARTE-Mediathek bietet ein breites Spektrum an tagesaktuellen Beiträgen, aber auch hintergründige Features, Reportagen und Dokumentationen. Eine Vielfalt, die beeindruckt.
Das „Kriegstagebuch einer Kinderärztin“ hat mich sehr berührt. Deshalb möchte ich im Blog heute diesen Film im Besonderen und die ARTE-Mediathek im Allgemeinen empfehlen. Sie allein sind für mich Argument genug, ein überzeugter Verfechter des öffentlich-rechtlich finanzierten Rundfunks und seiner Vielfalt zu bleiben – trotz aller Missstände, die es selbstverständlich zu beheben gilt.
ARTE wird zu 95 Prozent öffentlich-rechtlich finanziert. Auf deutscher Seite tragen ARD und ZDF mit 40 Prozent des Programms zur hohen Qualität bei. Unsere öffentlich-rechtlichen Sender sind ein großes Kapital.
Säule der Demokratie
Ihre finanziell unabhängige, differenzierte Vielstimmigkeit bleibt eine Säule unserer Demokratie, ihre unabhängig finanzierte kritische, freie Berichterstattung ein Bollwerk gegen jede Form von Propaganda und Fake News. Das kann, bei aller Wertschätzung, kein kommerzielles Medienunternehmen leisten, und Staatsfernsehen – siehe Russland – will es überhaupt nicht.
Noch einmal: Natürlich müssen Fehler aufgearbeitet und Fehlentwicklungen korrigiert werden. Natürlich muss das Programm weitergedacht werden, müssen sich ARD und ZDF weiter modernisieren, in der digitalen Welt vorankommen, sinnvolle Synergieeffekte erkennen und nutzen – wie es etwa bereits beim Aufbau einer gemeinsamen technischen Lösung für die Mediathek geschieht.
Aber grundsätzlich bleibt das öffentlich-rechtliche Modell in seiner Vielfalt unverzichtbar. Wer daran rüttelt, wer vorschnell von einer notwendigen Verschlankung der Programme spricht oder davon, einen öffentlichen Sender für ausreichend zu halten, der schadet den Meinungsbildungsprozessen in einer offenen Gesellschaft – so scharf würde ich es formulieren.
E i n öffentlich-rechtlicher Sender kann sehr angreifbar sein, und das tut weder der Qualität der Berichterstattung, noch der Meinungsfreiheit gut – wie man an der BBC sehen kann. Öffentlich-rechtlicher Wettbewerb belebt die Debattenkultur und eine lebendige, föderal organisierte Demokratie.
Auf den Kopf gestellt
Aber nun zurück zu diesem Film aus der Ukraine von Carl Gierstorfer, den ich Ihnen sehr empfehlen möchte: Wira Primakova, die Protagonistin, leitet als Anästhesistin die Intensivstation eines Kinderkrankenhauses. „Der Krieg hat mein Leben auf den Kopf gestellt“, sagt sie im März 2022.
Ihre drei Kinder hat sie da seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Ihr Mann kämpft an der Front. Die Angst sitzt tief in ihr, die Fassungslosigkeit auch. Arbeit hilft: Zwei Frühchen mit schweren Lungenentzündungen nehmen ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. „Mein Gott, das ist ja furchtbar“, sagt Wira mit Blick auf deren Röntgenbilder.
Über 60 Minuten begleiten wir diese couragierte Frau, Ärztin und Mutter im ersten Kriegsjahr an ihren Fronten in der Klinik und zu Hause. Wir sehen durch ihre Augen wie durch ein Kaleidoskop der Grausamkeit des Krieges.
Wir erleben Wira freundlich und professionell auf ihrer Station, deren Standards so ganz anders sind, als wir es aus deutschen Krankenhäusern gewohnt sind. Wir erleben, wie sie ihr Team in kühler Nüchternheit auf Triage-Situationen vorbereitet: auf die Begegnung mit schwerverletzten, ansprechbaren Patienten, die nicht mehr behandelt werden können, weil ihr Tod sicher ist. Wir erleben sie als liebevolle Mutter, die sich über die schlechten Schulnoten ihres ältesten Sohnes ärgert und den Jüngsten zur Erstkommunion begleitet. Ein Familienfest, das ohne den Vater gefeiert wird.
Nah dran
Immer wieder kommen schwer verletzte Kinder und Jugendliche ins Krankenhaus. Schusswunden, Granatsplitter. Wenn es gelingt, sie zu stabilisieren, werden sie zur Weiterbehandlung in andere europäische Länder gebracht – nach Schweden, nach Deutschland.
Der Reporter verzichtet in seinem Film auf jeden Kommentar. Musik wird sparsam eingesetzt. Zu Wort kommen allein Wira, ihre jungen Patienten und deren Angehörige, ihre Kolleg:innen, ihre Familie. Unaufdringlich beobachtet die Kamera, lässt Raum und ist doch nah dran und macht auf beklemmende Weise spürbar, wie dieser Krieg vor unserer Haustür den Alltag untergräbt und Lebensglück zerstört. Kein Ende in Sicht.
Es ist wichtig, dass Geschichten wie diese öffentlich erzählt werden. Auch für die Nachgeborenen. Und für unser Verstehen, für die weiterhin und auf lange Zeit notwendige Solidarität untereinander.
Europa verbinden
ARTE hat ein europäisches Publikum. 70 Prozent der Menschen in Europa können den deutsch-französischen Kulturkanal empfangen – mit Untertiteln in ihrer Muttersprache: ein mediales, intrakontinentales Bindegewebe der Vielfalt und Verständigung. Jedenfalls für diejenigen, die Qualitätsfernsehen schätzen. Ohne ARD und ZDF – unmöglich.
Die ARTE-Mediathek, in der auch dieser Film zu finden ist, ist übrigens eine wahre Fundgrube. Ob Reportagen wie diese, ob Dokumentationen, Serien oder Spielfilme. Wer gutes Fernsehen sucht, wird hier fündig. Werbefrei.
Freiheit schützen
Nutzen Sie bitte diese Freiheit – und helfen Sie sie zu schützen, vor den furchtbaren Vereinfachern und Vereindeutigern. Und schauen Sie sich diesen Film an.