Satt ist nicht genug – so lautet das Motto der diesjährigen 56. Aktion von Brot für die Welt. Über 800 Millionen Menschen auf dieser Erde hungern. Zwei Milliarden Menschen sind mangelernährt – oft mit fatalen Folgen für ihre körperliche und geistige Entwicklung.
Satt ist nicht genug – das wäre auch eine zutreffende Beschreibung für das Mangelleben, das zigtausende Menschen in unserer reichen Gesellschaft im Wortsinn auf der Straße leben. Selbst mit meinem warmen Mantel, einem trockenen Pullover und einer Mütze auf dem Kopf friere ich auf meinem Fußweg zum Heidekampsweg in Hamburg. Hier herrscht heute Abend typisches Hamburger Schmuddelwetter: Nieselregen bei Temperaturen um den Nullpunkt macht das Leben auf der Straße selbst mit guter Ausstattung zu einer echten Herausforderung.
Es ist 19 Uhr und ein Teil des Nachtbus-Teams für diese Nacht ist bereits eingetroffen. Zu viert werden wir heute bis Mitternacht mit dem Bus durch die kalte Hamburger Innenstadt fahren und an den bekannten Stopps heiße Getränke, Brötchen und Salatsandwiches an Menschen ohne einen festen Wohnsitz verteilen. Für besondere Notfälle haben wir auch einige Isomatten und Decken mit im Bus. Wer einen Schlafsack benötigt, bekommt ihn tagsüber in der Aufenthalts- und Beratungsstelle für Wohnungslose. So soll bei den Hilfeempfängern nicht nur ein nachhaltiges Gefühl für den Wert dieser Gegenstände gepflegt, sondern immer auch Beratung und weitere Hilfe ermöglicht werden.
Heute Nacht fährt neben zwei Ehrenamtlichen auch die polnisch und tschechisch sprechende Streetworkerin Katarzyna Cygan im Nachtbus mit. Sie bringt nicht nur eine besondere kulturelle Kompetenz mit, sondern auch ein großes Herz für die gut 80 Prozent der wohnungslosen Menschen, die in Hamburg auf der Straße leben und aus osteuropäischen Ländern stammen. Viele von ihnen sind irgendwann nach Deutschland gekommen, weil sie hier Arbeit und ein besseres Leben suchten. Die meisten von ihnen haben aber keine guten Erfahrungen mit ihren Arbeitgebern gemacht: Sie arbeiten unter haarsträubenden Bedingungen schwarz in der Gastronomie, auf dem Bau oder im Lager; ist die Arbeit getan, landen die meisten umgehend wieder auf der Straße. Viele finden nur Gelegenheitsjobs, sie werden auf der Straße angesprochen und leben auf der Straße.
Über 2.000 Männer und Frauen leben in Hamburg nach aktueller Schätzung tags wie nachts auf der Straße. Auch in kalten Nächten wie dieser. An unserer ersten Station auf der Mönckebergstraße holen wir bei einer Innenstadtbäckerei die Spenden von Bäckereien und Gastronomiebetrieben ab. Körbeweise laden wir das ein, was als Überproduktion sonst einfach als Lebensmittelmüll einer Überflussgesellschaft entsorgt worden wäre: Teilchen, Franzbrötchen, Salamibaguettes, Salate, die Reste eines Buffets und gut 150 trockene Brötchen aller Art liegen in den gut 25 blauen Plastikboxen, die wir in den Bus stapeln und anschließend festzurren. Noch während wir einladen, stehen bereits die ersten durchgefrorenen Männer und Frauen vor dem Bus. Neben ihnen warten auch zwei Jungen und ein Mädchen. Sie sind höchstens zwölf Jahre alt und auch sie werden diese kalte Nacht in einem Hausflur oder auf dem Entlüftungsschacht eines Supermarktes verbringen.
Zwanzig Meter weiter, nicht direkt vor der Bäckerei oder anderen Ladenlokalen, an der bekannten Stelle beginnen wir mit der ersten Ausgabe: „Habt Ihr auch Taschentücher dabei?“ “ Ich hätte gerne nur einen heißen Zitronentee.“ Frau Cygan ist hinter den Bus gegangen und schon mitten im Gespräch mit einem alten Bekannten. Sie berichtet: „Er hatte zunächst gute Fortschritte gemacht, wir hatten ihn schon als Mitarbeiter für unseren Treff gewonnen. Aber jetzt ist er wieder rückfällig geworden: Er ist spielsüchtig. Auch das müssen wir hier akzeptieren lernen. Es gibt Fortschritte durch Beratung und Begleitung, aber wir müssen auch die Brüche und Risse in diesen Leben aushalten.“ Auf unserer Tour durch das nächtliche Hamburg treffen wir viele Arbeitssuchende aus den Ländern Osteuropas, alte Bekannte und psychisch Kranke.
Unsere Route führt uns zu den bekannten Brücken, zu Parks und zu Bushaltestellen, wo wohnungslose Menschen aller Altersgruppen und aus vielen Nationen auch heute die Nacht verbringen. Die Findigen schlafen in Zelten, die vielen anderen trotzen der eisigen Kälte, Wind und Regen unter Planen oder schlicht auf der Parkbank. Ohne Alkohol ist das für viele kaum auszuhalten. Weil es heute so kalt und unwirtlich ist, bleiben sie lieber an ihrem Schlafplatz liegen; sie verzichten heute auf das Brötchen, ein Teilchen und die Tasse Kaffee oder Tee, das jeder und jedem von ihnen angeboten wird. Die, die gegen 23 Uhr in Altona am Ende der Reeperbahn an den Bus kommen, sind durchnässt. Ihre Ungeduld in der Schlange wird mit fortschreitender Stunde immer größer. Zweimal an diesem Abend muss Hermann, ein erfahrener ehrenamtlich tätiger Rentner, einen beginnenden Streit schlichten. Leben auf der Straße ist anstrengend und hinterlässt deutlich sichtbare seelische und gesundheitliche Spuren. Die Lebenserwartung von Wohnungslosen liegt deutlich unter dem Durchschnitt.
Seit 1996 fährt der Nachtbus durch Hamburgs Straßen. Eine warme Tasse Kaffee, eine wertschätzende Ansprache sind Lichtblicke in einer dunklen und nasskalten Nacht wie dieser. 140 Ehrenamtliche fahren jede Nacht in Doppelschichten, oft mit Streetworkerinnen und nicht zuletzt in enger Kooperation mit der neuen Tagesstätte für Wohnungslose der Diakonie. Hier erhalten sie neben einer warmen Mahlzeit und frischer Kleidung auch medizinische und rechtliche Beratung. Hier können sie mit Ihren Angehörigen in Rumänien, Polen oder Tschechien skypen oder telefonieren. Hier haben sie einen Briefkasten und einen Namen. Denn: Satt ist nicht genug!
Hier finden Sie noch mehr Informationen über den Mitternachtsbus in Hamburg.