Von Norwegen lernen. Das war im Grunde das Motto der vergangenen drei Tage, die ich mit einer kleinen Delegation aus Vertretern von Diakonie, Gesundheitspolitik und der gesetzlichen Krankenkassen in Bergen verbringen konnte.
Der erste Termin nach meinem Sommerurlaub: Wir waren unter anderem zu Besuch im Haraldsplass Diakonale Sykehus – einem diakonischen Krankenhaus, das in der Kommune Bergen eine wichtige Rolle spielt, nicht zuletzt in der palliativen Versorgung. Seit dreißig Jahren begleitet mich das Thema Hospiz und Palliativmedizin nun schon in meiner Arbeit: Wie können wir kranke und sterbende Menschen in ihren letzten Tagen und Wochen so begleiten, dass sie so selbstbestimmt und mit soviel Lebensqualität wie möglich ihre letzten Monate und Wochen erleben? Wie organisieren (und bezahlen!) wir die angemessene medizinische, pflegerische und seelsorgliche Unterstützung, die sie dazu brauchen? In Deutschland ist viel geschehen seit den Anfängen der Hospiz- und palliativmedizinischen Bewegung Mitte der Neunziger. Aber das norwegische System der Palliativversorgung ist unserem immer noch um Jahre voraus. Und das, obwohl es in ganz Norwegen nicht ein Hospiz gibt.
Schon von „Versorgung“ zu sprechen, ist bereits typisch deutsch. Im Norwegischen wird es anders formuliert: Da werden die Patientinnen und Patienten „umsorgt“. In dieser sprachlichen Nuance wird bereits ein anderer Geist sichtbar: Die Umsorgung vor allem schwerstkranker Schmerzpatienten und sterbender Menschen ist in Norwegen selbstverständlich integraler Bestandteil der medizinischen und pflegerischen Regelversorgung, auf die jeder unabhängig von Alter und Grad der Einschränkung ein Anrecht hat. Sie orientiert sich dabei an den individuellen Wünschen und Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten und genießt in der norwegischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Was sich übrigens auch an der Entlohnung und dem öffentlichen Ansehen der Pflegenden zeigt, die in Norwegen hohes Ansehen genießen und selbstverständlich eine generalisierte und sehr qualifizierte akademische Ausbildung genießen.
Besonders haben mich die alle Einrichtungen prägende teamorientierte Arbeit, die flachen Hierarchien und die Kultur des gegenseitigen Counsellings beeindruckt. Die landesweit gültigen Leitlinien schreiben den palliativen Versorgungsteams der Krankenhäuser ausdrücklich Interdisziplinarität vor. Zu diesen Teams gehören neben den Ärzten, Pflegerinnen und Pflegern immer auch Physiotherapeuten, Sozialarbeiter und SeelsorgerInnen. Dieses Miteinander wirkt eingeübt und selbstverständlich, jedes Teammitglied hat einen anderen Aspekt im Blick, im regelmäßigen Austausch – auch mit dem Patienten – suchen alle gemeinsam nach dem besten Umgang mit seiner Situation. Der sterbenskranke Patient bleibt als Mensch wirklich im Fokus, nicht nur mit seinem Blutbild, seiner Diagnose oder Prognose, sondern auch mit seinem Weltbild. Und das nicht nur im Krankenhausalltag, sondern auch bei der ambulanten Versorgung.
Das ist für uns, die wir in einem stark gegliederten Gesundheitssystem leben, schwer vorstellbar. Doch auch in Norwegen sind die hohen Ansprüche nicht einfach umzusetzen – so ist Fachärztemangel durchaus ein Problem, ausländische Fachkräfte werden besonders in den Sommermonaten entsprechend gerne gesehen. Andererseits braucht Norwegen allein wegen der geographischen Gegebenheiten eine andere, flexiblere Kultur der Zusammenarbeit: Wer Fjorde und große Distanzen überwinden muss, um die palliative Umsorgung aufrecht zu halten, ist auf gute Netzwerke und Kooperationsgeist auch außerhalb der Krankenhäuser angewiesen.
Ein Beispiel sind die Resource Sisters, Pflegekräfte, die eine besondere Ausbildung in palliativer Versorgung haben, bei akutem Bedarf von allen anderen Aufgaben freigestellt werden und übers Land reisen, um kranke und sterbende Menschen zu Hause oder in Pflegeheimen zu unterstützen. Auch die Allgemeinärzte spielen in den Kommunen eine wichtige Rolle – sie genießen ein hohes Ansehen und arbeiten eng mit Krankenhäusern, die oft sechzig oder achtzig Kilometer entfernt liegen, und Pflegeheimen zusammen. Spielentscheidend für den Erfolg der norwegischen „Palliativumsorgung“ sind aber die gemeinsame Vision einer guten palliativen Versorgung für alle und die verbindlichen Leitlinien dafür. Sie werden von Männern und Frauen vor Ort in ihren Städten, Dörfern und Regionen engagiert umgesetzt und mit Leben gefüllt. Der Vorteil: So ist man nah an den Bedarfen, und die beteiligten Fachkräfte können sich untereinander abstimmen und nach den besten Wegen der Umsorgung suchen. Gute Kommunikation und Kooperation gelten hier neben hoher Fachlichkeit – das haben wir im Haraldsplass Diakonale Sykehus gelernt – als die wichtigsten Schlüssel für eine gute palliative Umsorgung und für Würde am Lebensende. Wir haben in Deutschland bereits viel geschafft, aber wir haben noch viel zu lernen.