Das Motto der interkulturellen Woche „Vielfalt verbindet“, die gerade bundesweit von den großen Kirchen begangen wird, irritiert. Klingt zwar gut, aber jedes Kind weiß, dass es nicht stimmt: Unterschiede verbinden nicht, Unterschiede trennen. Und Vielfalt kann schön sein, inspirierend, aufregend, aber sie verbindet nicht.
Dazu muss man nicht einmal gesellschaftspolitisch werden: Eine beliebige Fußgängerzone in einer größeren Stadt oder das Oktoberfest reichen, um das Gegenteil zu erleben. Man fühlt sich im bunten Getümmel wie in einem lebendig gewordenen Wimmelbilderbuch: Auf deren meist doppelseitigen Bildern „wimmelt“ es nur so von Menschen, Tieren und Dingen. In einem Bild werden Dutzende Alltagsszenen dargestellt. Es ist unmöglich, sie auf einen Blick zu erfassen. Immer wieder entdeckt man Neues: eine Figur, eine Szene, ein kurioses Detail. – Nein, Vielfalt verbindet nicht, Vielfalt verwirrt. Vielfalt ist unübersichtlich, mitunter überwältigend und, wenn Lärm, Eile oder Angst dazukommen, dann kann Vielfalt mitunter sehr schwer auszuhalten sein. Willkommen in der Wirklichkeit.
Doch es gibt zur Vielfalt keine Alternative. Jedenfalls keine, in der Freiheit und Recht eine Rolle spielen. Vielfalt ist der anstrengende Normalzustand unserer Gesellschaft, in der Individualität einen hohen Wert hat. Vielfalt meint nicht nur das Leben mit Migrationshintergründen. Vielfalt übersetzt sich in Biografien, Lebensentwürfe, Weltanschauungen, Alltagskulturen und Stile. Vielfalt zu ermöglichen und die unterschiedlichen Interessen auszubalancieren, ist die Grundanforderung an Gesellschaftspolitik. Die gute Nachricht ist: Das gelingt in Deutschland seit Jahrzehnten ziemlich gut. Das Grundgesetz bietet einen Rahmen, in dem sehr unterschiedliche Menschen frei und friedlich neben- und miteinander leben können, und aus dem heraus Konzepte für ein lebendiges Gemeinwesen entwickelt und verbessert werden können und müssen.
„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, hat Altbundeskanzler Helmut Schmidt gesagt. Er hielt auch das Konzept Multikulti mit einer demokratischen Gesellschaft für schwer vereinbar. Ich finde, man muss beidem widersprechen: Visionen sind wichtig und multikulturelle Vielfalt ist heutzutage schlicht der deutsche Normalfall – in manchen Regionen stärker, in anderen schwächer ausgeprägt – und das wird so bleiben. Die Vielfalt wird eher noch zunehmen, und sie muss organisiert werden, und das braucht neben politischem Pragmatismus eine starke Vision, ja, eine Sehnsucht nach einer friedlicheren, gerechteren, vielfältigen Gesellschaft, auf die es sich zuzuarbeiten lohnt.
Visionär und pragmatisch
Vielfalt verbindet nicht. Aber was verbindet? In den schon erwähnten Wimmelbüchern verbinden sich die vielfältigen Szenen durch eine gemeinsame Umgebung zu e i n e m Bild: der Tierpark, die Baustelle, das Hochhaus. Der Rahmen, in dem Vielfalt gedeihen kann, der verbindet. Der Sozialraum verbindet uns, die Nachbarschaft: Dorf, Stadt, Kreis, Region… Hier muss Vielfalt organisiert und gelebt werden – von jedem und jeder Einzelnen.
Und darum ist es gut, dass die Kirchen (im Westen) schon seit 1975 die Interkulturelle Woche begehen – damals als Woche des ausländischen Mitbürgers. Vielfalt verbindet? Nein – tut sie nicht. Aber wir müssen lernen, uns in aller Vielfalt zu verbinden – visionär und pragmatisch.