Die Relevanz der Nächstenliebe

„Ist Nächstenliebe 2030 noch relevant? Impulse für eine strategische Vision zur Zukunft von Kirche und Diakonie.“ So ist eine Diskussion überschrieben, an der ich Anfang Februar in Heidelberg teilnehmen werde. Das Diakoniewissenschaftliche Institut lädt gemeinsam mit dem Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD sowie den Landesverbänden Baden und Württemberg zu einer Fachtagung und einer Zukunftswerkstatt ein.

Nächstenliebe: Eine Frau umarmt einen älteren Mann
Nächstenliebe: Sie verwirklicht sich im diakonischen Handeln, sowie hier in der ambulanten Pflege ©Annette Schrader

Das Thema ist mir seit meinen ersten Berufsjahren ein Anliegen. Ich bin damals bewusst in ein Krankenhaus und nicht in eine Gemeinde gegangen, weil ich überzeugt bin, dass das Evangelium seinen Glanz entfaltet, wenn es auf die Breite der gesellschaftlichen Wirklichkeit trifft und nicht nur auf bestimmte Milieus.

Und es geht heute ja um nichts weniger, als um die Frage, wie die Menschen in einer bunter, säkularer und älter werdenden Gesellschaft die Diakonie Gottes, seine Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit erfahren können. Auch die, die nicht klassisch kirchlich aufgewachsen sind, die vielleicht an gar nichts mehr glauben. Und es geht um die Frage, was die Arbeit der Diakonie ausmacht und von anderen Anbietern und Wohlfahrtsverbänden unterscheidet. Die formale Zuordnung der Diakonie zur Kirche allein wird hier nicht alle Fragen beantworten können. Es geht auch um Inhalte, Erleben und Begegnen. Wobei dann die Frage zu klären ist, woran man das Evangelische erkennen könnte: An der Bibel im Krankenzimmer, der Tageslosung auf der Homepage oder am Führungsstil des Vorstands? Wer anfängt darüber nachzudenken, merkt jedenfalls rasch, dass die Worte „Wohlfahrtsverband“ und „Nächstenliebe“ von alleine nicht so einfach zusammenpassen, wie  Formulierungen von der „Diakonie und ihrer Kirche“ oder „der Kirche und ihrer Diakonie“ das nahezulegen scheinen. Oder?

Diakonie im Sozialstaat

Diakonie ist in der deutschen Gesellschaft schließlich schon allein organisatorisch mehr als biblisch inspirierte Mildtätigkeit. Ebenso versteht man Diakonisches Handeln keinesfalls ausreichend, wenn man es – womöglich mit Alleinvertretungsanspruch – als gute Tat zwischen Menschen verstehen möchte. Gute Taten tuen – Gott sei Dank – auch Menschen, die sich nicht auf Gott und die biblische Überlieferung berufen. Und der Verweis auf den barmherzigen Samariter allein bekommt allzu leicht etwas Sozialromantisches. Nächstenliebe ist aber keine Schwester der Romantik, eher von Nüchternheit, Respekt und Solidarität. Natürlich verwirklicht sich diakonisches Handeln im direkten Kontakt zwischen Mensch und Mitmensch, wird nur lebendig in Begegnung, Pflege oder Beratung. Aber Diakonie im Sozialstaat meint eben auch Krankenhausverband, Pflegehilfe- und Bundesteilhabegesetz, Sozialpolitik oder Dritter Weg. Gemeinsam mit den anderen Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege ist der Diakonie die Verwirklichung des Sozialstaats anvertraut. Diakonie braucht nicht nur berührbare Samariterinnen und Samariter, sondern immer auch Organisation, Management und Betriebswirtschaft – wenn auch ohne Gewinnabsicht. Ob in der Behindertenhilfe, in der Tagesstätte für Demenzerkranke, in der Eheberatung, im Kindergarten oder der Arbeit mit Obdachlosen oder Flüchtlingen und in der  Geschäftsleitung –  sind unsere Kompetenzen oft spielentscheidender  als das Bekenntnis. Und doch bleibt die entscheidende Frage: Kann es eine Diakonie ohne Glauben geben? Was unterscheidet den sozialen Dienst der evangelischen Kirche von der Parität? Es ist keinesfalls egal, wie wir solche Fragen beantworten.

Kompetenz, Unglaube und Diakonie

In allen diakonischen Einrichtungen legen wir großen Wert darauf, dass die Kolleginnen und Kollegen gute Arbeit machen, auf dem neuesten Stand sind und sich in ihrem Fach, ihrer Zielgruppe bestens auskennen. Für viele ist dabei ihr Glaube eine zentrale Kraftquelle, für andere das Christentum eher eine Art kulturelles Fundament, bei wieder anderen mischen sich die Spiritualitäten, andere gehören gar keiner Kirche an, vielleicht sogar zu einer anderen Religion. Und auch Letztgenannte leisten exzellente Arbeit: auch sie begegnen ihren Nächsten mit Solidarität und Respekt, arbeiten mit Kompetenz und Zugewandtheit. Ohne die sogenannten Konfessionslosen könnte in manchen Regionen Deutschlands die Arbeit der Diakonie gar nicht mehr getan werden, aber praktizieren sie  „Nächstenliebe“? Braucht Nächstenliebe nicht den vorhergehenden Glauben an die Liebe Gottes? Ist eine getaufte Altenpflegerin „diakonischer“ als ein nicht getaufter Werkstattleiter?  Ich halte eine Schwarz -Weiß – Denke nicht für angemessen: Der menschenfreundliche Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und findet dafür Wege –  auch in einer säkularen und bunter werdenden Gesellschaft. Ich sehe theologischen und diakoniewissenschaftlichen Reflexionsbedarf. Wie können wir eine kleiner werdende Kirche und eine Diakonie mit offenen Rändern und mit Anderen in einer sich grundlegend ändernden Gesellschaft denken, welche neuen ( Kooperations-)Modelle und ekklesiologischen Figuren fallen uns ein?

Ich bin der Ansicht, dass es auch 2030 ohne Nächstenliebe nicht gehen wird. Nicht in der Diakonie, auch nicht in der Gesellschaft. Es gibt also Gesprächsbedarf: Wie wird diakonisches Handeln zur Praxis des Glaubens? Wie kann eine strategische Vision zur Zukunft von Kirche und Diakonie aussehen? Darüber müssen wir reden mit möglichst unterschiedlichen Menschen, denen die Nächstenliebe als gesellschaftlich relevante Kraft am Herzen liegt.

Mitdiskutieren!

Vielleicht haben Sie Lust auch mitzudiskutieren, ich würde mich freuen: Die Tagung „Religiöse Freiheit und Ambivalenzen der Liebe. Soziale Folgen der Reformation“ am Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg versammelt Fachleute aus universitärer Theorie und diakonischer Praxis, aus Theologie und Diakoniewissenschaft, Soziologie, und Wirtschaftspsychologie. Sie spannt einen weiten Bogen von der Rechtfertigungslehre Luthers und ihrer praktischen Relevanz für Diakonische Unternehmen heute bis zur Sozialpolitik in Deutschland und der Bedeutung des Altruismus für die Zukunft.  Anmelden können Sie sich hier.