Bukarest. Vier Tage war ich mit einer Delegation der Diakonie Deutschland und den Großstadt-Diakonien in der Hauptstadt Rumäniens zu Gast. Jetzt beschäftigen mich neue Fragen zur Ungleichheit in Europa.
Verbindungen zu Rumänien hat die Diakonie in Deutschland nicht nur über diakonische Partnerprojekte. Menschen aus Rumänien arbeiten inzwischen auch in deutschen diakonischen Einrichtungen gegen unseren Pflegenotstand an. Außerdem begegnen sie in den Großstadt-Diakonien als rechtlose Billigarbeitsmigranten ohne Papiere, medizinische Versorgung und Wohnung.
Exodus der Fachkräfte
Doch die Eindrücke und Gespräche spiegeln noch eine andere Facette dieser besorgniserregenden Entwicklung: Es sind überwiegend die jungen und gut Qualifizierten, die das Land jedes Jahr verlassen. Etwa 200 000 sollen es sein. Sie sehen für sich und ihre Familien einfach keine Perspektiven in ihrem Heimatland. Das ist dramatisch: Denn auf diese Weise verlieren Länder wie Rumänien ihre Elite von heute und die von morgen gleich mit. Über vier Millionen gut Ausgebildete haben ihrem Land in den letzten Jahren den Rücken gekehrt. Das ist fast ein Fünftel der Bevölkerung. Ob sie je wieder zurückgehen werden, ist fraglich. Denn die Gesundheitseinrichtungen, die Schulen und Kindertagesstätten sind in einem sehr schlechten Zustand. Genauso wie die Demokratie. Korruption ist allgegenwärtig. Die alten Netzwerke mit ihrer Selbstversorgungsmentalität scheinen fast ungestört ihren Geschäften nachzugehen.
Der Vorsitzende der größten Regierungspartei PSD ist ein wegen Wahlbetrugs verurteilter Straftäter, dem aktuell weitere Verfahren drohen. Kein Wunder, dass er derzeit die Unabhängigkeit der Justiz angreift. Seine Partei ist ein Sammelbecken der alten Nomenklatura.
Es fehlt überall im Land nicht nur an Infrastruktur oder Medikamenten. Es fehlen eben auch gut qualifizierte Arbeitskräfte: Facharbeiter, Ärztinnen und Pflegefachkräfte, Erzieher oder Sozialpädagoginnen – denn die meisten Qualifizierten sind auf der Suche nach einem besseren Leben längst nach Italien, Spanien oder nach Deutschland gegangen. Nach realistischen Schätzungen leben inzwischen ca. 400.000 rumänische Staatsbürgerinnen und -bürger allein in unserem Land. Rückkehranreize gibt es nicht und die uns vorgestellten Programme klingen mindestens halbherzig.
Diese Arbeitsmigranten helfen uns in Deutschland – auch in unseren diakonischen Einrichtungen – bei der Bewältigung des Fachkräftemangels und nutzen die Freizügigkeit innerhalb der EU, die hier ihre Zweischneidigkeit zeigt. Denn geht diese Entwicklung so weiter, dann zahlen Länder wie Rumänien in Südosteuropa und in Osteuropa einen hohen Preis. An die erheblichen sozialen und politischen Langzeitfolgen, nicht nur für die betroffenen Länder und ihre Bürgerinnen und Bürger, sondern für die gesamte EU, ist noch gar nicht gedacht.
Ungleiches Europa
Ein schneller Wandel der gesamtgesellschaftlichen Situation in Rumänien wird immer unwahrscheinlicher, die Lebenssituation für die im Land Gebliebenen bleibt stabil unbefriedigend, und die alten Machteliten betonieren ihre Mehrheiten und ihren Einfluss. Weil die Opposition zu schwach ist und eine neue starke Zivilgesellschaft kaum entsteht, gewinnen die Feinde der offenen Gesellschaft und einer starken Zivilgesellschaft ihr durchaus einträgliches Spiel. Sie machen beste Geschäfte und versorgen ihre Unterstützer mit einträglichen Posten und Privilegien.
Auf der Strecke bleiben Arme und Alte. Das ist im Herzen Bukarests nicht so offensichtlich, hier sieht man viele gut gekleidete Menschen, teure Häuser und Autos, junge Menschen in Cafés. Aber in einigen Stadtteilen und vor allem auf dem Land, so berichten unsere Gesprächspartnerinnen übereinstimmend, wird die traurige Realität sichtbar: Es gibt Dörfer, zu denen keine asphaltierten Straße führt, wo Kinder acht Kilometer über schlammige Wege zur Schule laufen müssen.
Ein Fazit unserer Reise lautet: Rumänen brauchen in Rumänien Lebensperspektiven. Engagierte NGOs, aus dem Ausland unterstützt, versuchen vieles aufzufangen. Aber es fehlt ihnen an staatlicher Anerkennung und Unterstützung. Vor allem bei der Beantragung und Umsetzung EU-geförderter Projekte. Hier braucht es dringend eine neue Initiative der EU mit einem speziellen Förderschwerpunkt: dem schnellen Aufbau einer funktionierenden Zivilgesellschaft.
Auch wir in der Diakonie können und sollten verlässliche Partner für die sein, die unter schwierigen Bedingungen ihr Bestes geben, Kinder von der Straße holen und ihnen Ausbildung und berufliche Perspektive bieten, wie die beeindruckenden Haupt- und Ehrenamtlichen von Concordia.
Der Staat erscheint aktuell unfähig oder, schlimmer noch, kaum gewillt, etwas zu ändern, sondern versinkt in Korruption. Rumänien belegt auf dem weltweiten Index von Transparency International den 59. Rang unter 180.
Ende des Jahres wird Rumänien die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Eine offensichtlich korrupte und unfähige Regierung wird die europäische Agenda mitbestimmen. Auch das sind beklemmende Perspektiven für die Zukunft Europas.
Wir brauchen dringend eine europäische Debatte über gleichwertige Lebensverhältnisse, über die Säule sozialer Rechte und die Rolle der Zivilgesellschaft in der Europäischen Union. Und wir sollten diese Debatte in unseren Reihen und in Deutschland beginnen.
Magic Camp und Concordia
Wir haben aber auch sehr beeindruckende Menschen in Bukarest kennengelernt. Menschen wie Vlad Voiculesco (35) gelernter Investment-Banker, der sein Studium in Österreich absolviert hat und hervorragend Deutsch spricht. Er hat eine eigene Partei gegründet und will Bürgermeister in Bukarest werden. In der Übergangsregierung war er kurze Zeit Gesundheitsminister des Landes.
Voiculesco hat Medikamententransporte für krebskranke Kinder nach Rumänien organisiert. Ein eigenes Fundraising dafür aufgebaut. Dann hat er gemerkt, dass die schwerkranken Kinder sehr darunter leiden, dass sie nicht mehr wie andere Kinder mit Kindern spielen können. Also hat er MagicCamp gegründet, Feriencamps für krebskranke Kinder. Mit einer Riesenkampagne, für die er den 1. Preis in Cannes gewonnen hat, hat er über 1,5 Mio. Dollar für MagicHomes, Unterkünfte für die Familien von krebskranken Kindern, eingeworben, die nach Bukarest zur Behandlung kommen. Und er plant weitere Projekte, die krebskranken Kindern und ihren Familien zu Gute kommen.
Sehr beeindruckt hat mich Diana Certan. Sie leitet die NGO Concordia, die hoch professionell und mit viel Herzblut Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bildet und beruflich qualifiziert. Sie bietet Straßenkindern ein Dach über dem Kopf und eine wirkliche Perspektive. Auch Notunterkünfte für obdachlose Menschen gehören zum Angebot.
Zeit der Chancen
Es gibt viele engagierte und beeindruckende Menschen in Rumänien, die jeden Tag an besseren Perspektiven arbeiten. Wie hat der deutsche Botschafter Cord Meier-Klodt bei unserem Gespräch gesagt: „Krisenzeiten sind auch immer Zeiten der Chancen.” Menschen wie Vlad Voiculesco und Diana Certan sind echte Chancen für dieses schöne Land und seine Menschen. Wir sollten in Europa und in Deutschland, auch in der Diakonie, alles dafür tun, dass sie ihre Chancen nutzen können.