Das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung (EWDE) hat in dieser Woche in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde erhoben. Und zwar gegen ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in der Causa Egenberger und mittelbar gegen eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).
Vordergründig geht es um eine Frage des Arbeitsrechtes, aber es geht auch darum, wer entscheiden darf, welche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie evangelisch sein müssen und welche nicht. Es geht außerdem um die Säkularität des Staates, die auch durch die Autonomie der Kirchen sichergestellt wird. Und es geht um die Frage, ob das EuGH wirklich in das Staatskirchenrecht der Bundesrepublik eingreifen darf.
Was darf das EuGH?
Die Europäische Union hat aus gutem Grund in Artikel 17 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) die Religionsgemeinschaften in den Mitgliedsstaaten vor Beeinträchtigung geschützt. Dieses Recht hat der EuGH in seinem Urteil vom vergangenen April in voller Kenntnis der deutschen Rechtslage nicht angemessen beachtet und – wie wir meinen– außerhalb seines Mandats gehandelt. Wir halten darum auch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts mit seiner Übernahme der Luxemburger Auslegung für verfassungsrechtlich problematisch. Das wollen wir geprüft haben. Aus gutem Grund:
Die Religionsfreiheit wird durch Artikel 4 Grundgesetz geschützt. Sie umfasst einzelne Personen wie auch Gruppen. Darin spiegelt sich in der deutschen Verfassung die historische Erfahrung eines totalen Staates, den die weitsichtigen Mütter und Väter des Grundgesetzes auch dadurch in seiner Machtfülle beschränkt wissen wollten, dass die zivilisierte Religion gemeinwohlorientierte und gemeinnützige Aufgaben zum Beispiel als Wohlfahrtsverband übernehmen sollte – unabhängig und im Rahmen der für alle geltenden Gesetze.
Nach Artikel 140 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung ist den Religionsgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland zudem ein Selbstbestimmungsrecht in ihren eigenen Angelegenheiten garantiert. Dazu gehört auch die Freiheit, sich nach eigenen Werten zu organisieren und Mitarbeitende auszuwählen.
Das tut die Diakonie mit über 530. 000 Hauptamtlichen und 700.000 bürgerschaftlich Engagierten, die keinesfalls alle Mitglied der evangelischen Kirche sind oder sein müssten. Spätestens seit der letzten Änderung der Loyalitätsrichtlinie vom 9. Dezember 2016 – also bereits vor den Urteilen vom EuGH am 17. April 2018 und dem des BAGs vom 25. Oktober 2018 – sind uns auch Konfessionslose oder Muslime ausdrücklich willkommen, wenn sie das Ethos unserer Organisation zu achten bereit sind.
Kultursensibel und vielfältig
In dem evangelischen Krankenhaus, in dem ich meine ersten Berufsjahre als Krankenhauspfarrer verbracht habe, gab es bereits vor 25 Jahren eine Kopftuch tragende muslimische Oberärztin, weil wir als Innenstadtkrankenhaus viele türkische Patientinnen hatten.
Heute arbeiten wir nicht nur im Bundesverband intensiv an den Themen, die sich mit der gebotenen kulturellen und religiösen Sensibilität unserer Arbeitsgebiete verbinden.
Ein neues „Zentrum Engagement, Demokratie und Zivilgesellschaft“ in unserem Bundesverband befasst sich mit dem Thema Diakonie in der postmigrantischen Gesellschaft. In dieser vielfältigen Gesellschaft wollen wir als Diakonie den Zusammenhalt und das Gefühl der Zugehörigkeit vor Ort nach Kräften und aus Glauben befördern.
Eine rückwärts gewandte und nur auf ihre überkommenen Privilegien bedachte Organisation sieht anders aus, als das, woran wir jeden Tag (und jede Nacht) mit sehr vielfältigen und wunderbar engagierten Menschen arbeiten.
Kirche braucht Klarheit
Mit unserer Verfassungsklage wenden wir uns aber dagegen, dass theologische Kernfragen, die unser Selbstverständnis betreffen, von Juristen entschieden werden sollen. Das riecht nach Richtertheologie. Die braucht nicht schlecht zu sein, aber sie löst bei uns eine sehr grundsätzliche Skepsis aus.
Wir brauchen Klarheit darüber, dass das kirchliche Recht auf Selbstbestimmung nicht durch EU-Recht ausgehöhlt wird.
Das geht übrigens nicht nur die Diakonie etwas an. Es sollte jede Organisation interessieren, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder anderen Weltanschauungen und Werten beruht.
In einem zugleich religiös und kulturell vielfältiger werdenden Land, in dem auch die Zahl der Konfessionslosen steigt, stellen wir die Gretchenfrage. Nicht nur in unserem Interesse!
Zur Erinnerung: Das EuGH-Urteil vom vergangenen April, an dem sich das BAG im Herbst 2018 in der Causa Egenberger orientierte, hatte zwei Rechtsgüter gegen einander abgewogen: Das Recht der Kirchen (und anderer Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht) auf Autonomie u n d das Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aufgrund ihrer Religion oder Weltanschauung nicht diskriminiert zu werden.
Wesentlich, rechtmäßig, gerechtfertigt
Die Luxemburger Richter hatten damals „vergleichend und prüfend genau bedacht“ und beide Rechtsgüter geschützt.
Das heißt: Das EuGH hat bekräftigt, dass es einem staatlichen Gericht nicht zusteht, über den Glauben, den wir in der Kirche pflegen, als solchen zu befinden. Es steht ihm aber wohl zu, festzustellen, ob bei einer konkreten Stelle, die in Kirche und Diakonie zu besetzen ist, es „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ ist, vom Bewerbenden diesen Glauben zu erwarten.
Dieser Logik folgend entschied dann das BAG im Herbst 2018, dass die Diakonie in dem konkret verhandelten Fall, kein Recht gehabt hätte, die konfessionslose Bewerberin nicht zum Gespräch einzuladen. Dass für uns fachliche Gründe entscheidend waren, fiel nicht mehr ins Gewicht. Ist das die Zukunft für kirchliche und andere weltanschauungsorientierte Arbeitgeber?
Kriterien der Richter-Theologie?
Ich bin froh, dass wir das in Karlsruhe klären lassen, denn damals wie heute stellt sich mir die Frage, wie zunehmend säkular sozialisierte Richterinnen und Richter, die über keine theologische, kirchliche oder diakonische „Feldkompetenz“ verfügen, arbeitsrechtliche Richtlinien für die Einstellungspraxis der Kirchen festlegen können werden? Woher gewinnen sie ihre Kriterien?
Wird es ihnen „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ erscheinen, dass in der evangelischen Kirche und ihren Institutionen Glauben nicht nur von Theologinnen und Theologen vertreten und gelebt wird?
Wie soll Ihnen einleuchten, dass es uns aus theologischen Gründen, die unsere konfessionelle Identität betreffen, nach wie vor ein Anliegen ist, in allen Arbeitsbereichen und auf allen Hierarchieebenen auch Menschen zu beschäftigen, die glauben oder sich zumindest mit der evangelischen Kirche identifizieren können?
Urprotestantisch
Unser evangelisches Kirchenverständnis zeichnet sich gerade dadurch aus, dass alle Getauften Priesterinnen und Priester sind, um es einmal traditionell auszudrücken.
Mit ihnen und allen anderen, die uns herzlich willkommen sind und auf die wir weder verzichten wollen noch können, wollen wir Diakonie in der postmigrantischen Gesellschaft sein. Kenntlich und eben nicht diskriminierend.
Denn schließlich erwarten auch die Menschen, die unsere Angebote wahrnehmen, dass sie nicht nur hochprofessionell umsorgt werden, sondern sich auch in einem evangelisch geprägten Umfeld befinden. Was auch bedeutet, dass sie bei Bedarf zum Gottesdienst geleitet werden oder dass mit ihnen gebetet wird.
Dazu kommt – auch das ist urprotestantisch: Der Glaube „gehört“ ja nicht allein den „Theologie-Studierten“. Glaube spielt auch nicht nur bei Andachten oder in der Seelsorge eine Rolle. Glaube ist ein Kompass, der in jeder Aufgabe orientiert.
Und als evangelische Arbeitgeberin freuen wir uns, wenn wir Mitarbeitende finden, die diesen Glauben leben. Zumindest wünschen wir uns, dass die Kolleginnen und Kollegen, ob getauft oder nicht, diese „Unternehmenskultur“ gut finden und dem Leitbild zustimmen, das nahezu jede diakonische Einrichtung hat. Eine Erwartung, die wohl jede Arbeitgeberin haben darf – sogar die Kirche.
Irrtum der Gewerkschaft
Rechtfertigt diese Haltung wirklich den Vorwurf, der in dieser Woche, verlässlich wie das Amen in der Kirche, von Gewerkschaftsseite kam: Die Verfassungsbeschwerde zeige, dass Diakonie und Kirche es ablehnten, gesellschaftliche Entwicklungen in ihren Strukturen abzubilden und krampfhaft an überkommenen Mustern festhielten?
Nein, genau das tun wir nicht. In unserer offenen, freien und gerechten säkularen Gesellschaft, die wir im Rahmen der für alle geltenden Gesetze engagiert aus Glauben mitgestalten wollen, bilden wir gesellschaftliche Entwicklungen in unseren Strukturen ab:
Bereits seit über 2 Jahren haben EKD und Diakonie darum eine neue Loyalitätsrichtlinie, die sich für Konfessionslose und Andersglaubende öffnet. Wer anderes behauptet, weiß es nicht besser oder führt bewusst in die Irre.
Mitarbeitende in der Seelsorge, Verkündigung und Bildung müssen unserer Ansicht nach allerdings evangelisch sein, und Leitungskräfte sollen einer christlichen Kirche angehören.
Beides – die Buntheit und die Christlichkeit – hat mit unserem Selbstverständnis in einer sich verändernden Gesellschaft zu tun, aber auch mit Professionalität und Pragmatismus.
Zusammenhalt erhalten
Und gleichzeitig müssen wir in einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft im Rahmen der für alle geltenden Gesetze sicherstellen können, dass die von der Verfassung gewollten Frei- und Handlungsspielräume von Religionsgemeinschaften erhalten bleiben.
Nur so können wir unseren gemeinwohlorientierten und gemeinnützigen Beitrag zur Gestaltung dieser vielfältigen Gesellschaft, von der auch die Kirchen ein gewollter Teil sind, leisten und dazu beitragen, den Zusammenhalt zu erhalten.
Jetzt ist das Bundesverfassungsgericht an der Reihe. Das ist gut so. Denn Vielfalt braucht Rechtssicherheit.