„Was hält uns zusammen? Vom Ringen um gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten des rasanten Wandels“. Unter dieser Überschrift hat das renommierte Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in dieser Woche zur einer Fachtagung eingeladen. Ich konnte auf dem Eröffnungspodium die diakonische Perspektive einbringen.
Wer meinen Blog verfolgt, weiß, dass mich dieses Thema schon länger umtreibt – wie inzwischen viele im Land. Mich beschäftigt dabei auch die Frage: Wie können wir mit unserem Netzwerk Diakonie noch wirkungsvoller und sichtbarer zur notwendigen Arbeit am gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen? Gemeinsam mit den immer unterschiedlicher werdenden anderen Menschen im Land.
Diakoniefern diskutieren
Zu solchem Engagement und der damit verbundenen notwendigen Reflektion dieser Arbeit gehört auch, in auf den ersten Blick diakoniefernen Foren mitzudiskutieren. Mit Menschen, für die Kirche oft eher ein Auslaufmodell ist. Jedenfalls keine Gesprächspartnerin, an die sie zuerst denken, wenn es über Zusammenhalt in der Gesellschaft zu diskutieren gilt.
Ich freue mich, wenn wir aus dem „Team Diakonie“ zu solchen Gesprächen eingeladen werden. Denn diese Diskurse haben mittel- und langfristige Folgen. Sie prägen Bewusstsein und helfen das oft stereotype Bild von Diakonie und Kirche positiv zu enttäuschen.
Positiv enttäuschen
Das gilt nicht nur für Diakonie-Präsidenten. Jeder und jede, die zum Team Diakonie gehört, kann und sollte solche Dialoge häufiger führen – in der Universität, in der Kommunalpolitik oder am Kneipentisch. Wir können erklären, warum es für alle Menschen im Gemeinwesen gut ist, dass es Diakonie und Kirche und ihre Orte der ausstrahlenden Menschenfreundlichkeit gibt. Warum sie auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe wahrnehmen – auch um den sozialen Zusammenhalt mit zu erhalten.
Aber erklärt werden muss es, denn, ob es uns in Kirche und Diakonie gefällt oder nicht: Wir werden uns demütig daran gewöhnen müssen, dass es mehr und mehr gesellschaftliche Räume gibt, in denen wir nicht mehr „die erste Geige spielen“. Wir verfügen über keinen selbstverständlichen Vertrauensvorschuss mehr, und Diakonie ist nur eine soziale Arbeit unter anderen. In Ostdeutschland weht der Wind hier schon länger rau – manchmal kommt er offen religionsfeindlich aus der Gegenrichtung. Der Süden der Republik genießt hier noch ein milderes Klima.
Tiefgreifender Wandel
Trotz dieser regionalen Ungleichzeitigkeit und den unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Individualisierung und Säkularisierung bei einer gleichtzeitig immer bunter werdender Religiosität: unter der Oberfläche derzeit noch guter statistischer Durchschnittswerte ist eine tiefgreifende und unumkehrbare Verwandlung wahrzunehmen.
Diese Bundesrepublik verändert sich als Ganze mit großer Geschwindigkeit von einer mehr oder weniger homogenen und sozial ausgeglichenen Gesellschaft zu einer multiethnischen, multireligiösen und unter mehreren Aspekten sozial ungleicher und zugleich immer älter werdenden digitalen Gesellschaft.
Aktiver Zusammenhalt
Zusammenhalt erfordert darum zukünftig die aktive Mitarbeit von möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern an dem, was uns verbinden soll. Denn ein gegebener gemeinsamer Glaube, eine gegebene politische Grundüberzeugung oder die automatische Zugehörigkeit zur Mitte der Gesellschaft sind nicht mehr vorauszusetzen.
Daher, das habe ich auf dem Podium vertreten, spielen die Kommunen für das „doing universality“ (Andreas Reckwitz) und für den Zusammenhalt der immer Unterschiedlicheren eine immer wichtigere Rolle. Kommunen sind die konkreten unmittelbaren Lebens- und Wohnumfelder der immer verschiedener werdenden Menschen.
Demokratie einüben
In unseren Kitas, Schulen, Bildungseinrichtungen und Sportvereinen beginnt das Einüben eines demokratischen Zusammenlebens der Unterschiedlichen, das die unverlierbare Würde der Anderen achtet und verteidigt. Diese dauernde Arbeit findet ihre Fortsetzung an öffentlichen Orten der Erwachsenenbildung wie Volkshochschulen, Bibliotheken, aber eben auch – und das ist nicht zu unterschätzen – an unseren diakonischen Orten und in den Kirchengemeinden.
Auch sie wirken in Nachbarschaften hinein. In sehr unterschiedlichen Kontexten arbeiten Menschen in Begegnungszenten, Stadtteilcafés, Qualifizierungseinrichtungen oder evangelischen Kindertagesstätten und Beratungsstellen sehr konkret an der konkreten Erfahrung von Zusammenhalt und Zugehörigkeit, den man vor seiner Haustür erfahren muss, wenn er von Bedeutung sein soll. Idyllen sind solche Orte keineswegs, es geht immer auch um die Einübung von konstruktivem Streit und Konfliktfähigkeit.
Universalistisch praktisch
„Kirche und Diakonie mit Anderen“ versteht solche Arbeit am Zusammenhalt als Teil ihres universalistischen Zeugnisses und kann hier durch die praktische Arbeit mit den Menschen vor Ort wertvolle Beiträge leisten, die der Gesamtgesellschaft zu Gute kommen.
Einig waren wir uns auf dem lebendig diskutierenden Podium in Bielefeld an einem Punkt:
Zukunft ohne Ausgrenzung
Eine Vorstellung von Zusammenhalt, die auf der Ausgrenzung Andersdenkender, anders Liebender, Menschen mit anderer Geschichte oder anders Glaubender beruht, ist kein taugliches Modell von Zusammenhalt für eine heterogene Gesellschaft der Singularitäten im 21. Jahrhundert. Solche Sichtweisen fördern keinen Zusammenhalt, sie gebären Rassismus, Antisemitismus oder Antiislamismus und andere -ismen. Schlichte Leugnung der Vielfalt führt zu Menschenfeindlichkeit.
Großes Experiment
Eine demokratische und gerechte Gesellschaft der Vielfalt braucht für Alle geltende Regeln, Moderation und gerechte Verfahren der Beteiligung. Und sie braucht die Bereitschaft aller zur Mitgestaltung und zur Veränderung. Denn eine solche Gesellschaft ist nie schon fertig, sie bleibt ein großes Experiment, ein offener Prozess, der durchaus scheitern kann. Auch darüber waren wir uns einig.
Zum Wohle aller
„Gottesdienst im Alltag“ in einer unhintergehbar bunter werdenden Welt wäre es, im wohlverstandenen Sinne am Gelingen dieses Experimentes zu arbeiten. Zum Wohle aller – gerade der Anderen.