„Fluchtwege nach Europa – Was hat das mit uns zu tun? Herausforderung für Politik und Kirche.“ Über dieses Thema haben wir am Dienstagabend geredet – EKBO-Bischof Christian Stäblein, Annalena Baerbock (MdB), die Bundesvorsitzende der Grünen und ich. Es war eine „Geisterdiskussion“. Also ohne Publikum vor Ort, aber dank eines Livestreams nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Die humanitäre Katastrophe an den europäischen Außengrenzen verdient so viel mehr Aufmerksamkeit, als einige schräge Impfgegner. Sie schreit nach einer konstruktiven öffentlichen Debatte und gehört jetzt ganz nach oben auf die europapolitische Agenda. Auch wenn der mediale Scheinwerfer auf Corona fixiert ist: Eine Reform des europäischen Asylrechts ist überfällig.
Recht- und perspektivlos
Viel zu viele Menschen leben unter unsäglichen Umständen recht- und perspektivlos an den Außengrenzen Europas – in den überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln oder in den ungarischen Transitlagern, die eigentlich Gefängnisse sind, wie der Europäische Gerichtshof gerade erklärt hat. Mit europäischen Menschenrechtsstandards hat das schon lange nichts mehr zu tun. Und immer noch ist die Mittelmeerroute die gefährlichste Seemigrationsroute der Welt.
Auch wenn es derzeit keine Erkenntnisse mehr über die Menge der Schiffbrüche gibt, weil die zivile Seenotrettung coronabedingt nicht mehr ausfahren darf, und die Häfen geschlossen sind. Das heißt, die Menschen ertrinken derzeit unbemerkt. All das schreit zum Himmel. Das kann keinen anständigen Menschen unberührt lassen, auch wenn er oder sie von europäischen Werten noch nie etwas gehört hat.
Unsere vom Tagesspiegel-Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff moderierte kleine Runde gestern war sich in vielem einig. Auch darin, dass Deutschland eine historische Verpflichtung hat.
Europas Versagen
Wir waren im Martin-Niemöller-Haus in Berlin-Dahlem zu Gast: ein Erinnerungsort für den christlichen motivierten Widerstand zur Zeit des Nationalsozialismus und ein Lernort, an dem nach den Implikationen der Geschichte für verantwortliches, gesellschaftliches Handeln in der Gegenwart gefragt wird.
Gerade an so einem Ort schmerzt Europas Versagen bei der Flüchtlingspolitik. Denn das Ignorieren des Elends der an den Außengrenzen gestrandeten verzweifelten Menschen, diese dickfellige Passivität, erinnert an das Wegsehen der Welt in den Dreißiger- und Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts angesichts der vor und aus Nazideutschland fliehenden Menschen.
Es ist dieses Wegsehen, das seit spätestens 2016 wieder die Glaubwürdigkeit des Projekts Europa unterwandert. Denn seit der schmachvollen Konferenz von Évian 1938 gibt es eine historische Verantwortung aller Europäer für ein individuelles Asylrecht.
Erinnern für die Gegenwart
Darum habe ich am Dienstag zu Beginn meines Impulses an das Schicksal des Holocaustüberlebenden und prominenten jüdischen Historikers Saul Friedländer erinnert, der im vergangenen Jahr vor dem Bundestag eine erschütternde, mir unvergessliche Rede gehalten hat.
Saul Friedländer erzählte uns einfach seine eigene Geschichte. Die traurige Geschichte von einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling, dem sechsjährigen Saul, der 1939 zunächst noch mit seinen Eltern vor den Nazis von Prag nach Paris, und dann von Paris nach Zentralfrankreich fliehen musste. Seine Eltern glaubten sich und ihren kleinen Sohn im „patrie der Menschenrechte“ sicher.
Aber auch im Vichy-Frankreich fanden sie keinen sicheren Ort. Der kleine Saul wurde darum von den Eltern – in panischer Angst um ihr einziges Kind – gegen seinen Willen erst in einem jüdischen Kinderheim versteckt. Und nach den ersten nächtlichen Verhaftungen von Kindern auch dort – in einem katholischen Internat. Der kleine Saul Friedländer floh aus diesem Internat zurück seinen Eltern, die sich in einem Krankenhaus versteckt hielten.
Und dann erzählt er, wie seine Eltern ihn, den sich heftig wehrenden Jungen, wieder zurück in das Internat brachten. Das war das letzte Mal, dass er seine Eltern sah. Wenige Tage später wurden sie bei ihrem Fluchtversuch über die französischen Alpen an der Grenze zur rettenden Schweiz von der Grenzpolizei verhaftet und zurückgewiesen.
Ausgerechnet in dieser Woche hatte die Schweizer Regierung beschlossen, kinderlose Eltern umgehend wieder abzuschieben. Die Eltern von Saul Friedländer wurden daraufhin verhaftet, nach Ausschwitz deportiert und dort nach wenigen Wochen Zwangsarbeit im Gas umgebracht.
Asylrecht – Seele Europas
Wegen des beschämenden europäischen Versagens bei der Rettung so vieler Verfolgter und jüdischer Menschen sieht die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ein individuelles Recht auf Asyl vor. Derzeit wird es an unseren Außengrenzen tausendfach außer Kraft gesetzt.
Die deutsche Ratspräsidentschaft, die in wenigen Wochen beginnt, muss das endlich ändern! Im Juni will die Kommission einen neuen Anlauf für eine europäische Asylrechtsreform nehmen, und sie wird das nicht ohne Unterstützung tun.
Ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis in Europa – Kommunen, Kirchen, zivile Seenotrettung und andere Organisationen der Flüchtlingshilfe – steht bereit, diesen Prozess zu unterstützen und daran mitzuwirken, dass die Umsetzung gelingt. Es geht um das Leben von Menschen – auch von Kindern. Es geht um die Seele Europas.
Grundrechte und Grenzen
Klar ist: Eine europäische Asylpolitik, die diesen Namen verdient, wahrt die Grundrechte u n d schützt die Außengrenzen, teilt Kosten und Aufgaben fair unter den Mitgliedsstaaten und verabschiedet sich von der unseligen und untauglichen Dublin-Verordnung, die dem Land der Ersteinreise die Asylverantwortung zuschiebt.
Stattdessen braucht es einen dauerhaften Relocation-Mechanismus von den Außengrenzen in andere EU-Staaten. Dafür müssen die Geflüchteten an den EU-Außengrenzen selbstverständlich registriert werden. Wir müssen wissen, wer zu uns kommt. Aber nicht, um dem Asylverfahren vorzugreifen, sondern um die geregelte Aufnahme in Europa steuern zu können.
Ein Europa der Menschenrechte, ein „patrie der Menschenrechte“ darf jetzt nicht in Passivität verharren und die Verantwortung den Griechen überlassen.
Europa der Menschenrechte
Auf zwei Konferenzen in Paris und Berlin hat die Diakonie im Jahr 2019 gemeinsam mit der französischen Flüchtlingsorganisation france terre d’asile, der Heinrich-Böll-Stiftung Paris und vielen anderen Verbänden und Organisationen sowie solidarischen europäischen Städten Forderungen formuliert – und verantwortbare gangbare Wege für ein Europa der Menschenrechte in dieser drängenden Frage vorgeschlagen.
Hier sehen Sie den Live-Stream von Dienstagabend.