Europa ist krank. Die Staatengemeinschaft, in der in feierlichen Momenten gerne Beethovens „Ode an die Freude“ erklingt („Alle Menschen werden Brüder“ (m/w/d)), ist aktuell ein Schatten ihrer selbst. Die Brände in Moria, die verheerenden Zustände auf den griechischen Inseln, das andauernde schreckliche Geschacher um die Evakuierung der Lager und die Verteilung verzweifelter Menschen sind Symptome dieser Krankheit.
Europadämmerung
Der bulgarische Politologe Ivan Krastev diagnostiziert diese Krankheit in seinem lesenswerten Essay „Europadämmerung“ als Selbstwiderspruch. Er fragt: Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass viele Europäer*innen autokratische Politiker wählen, die die vermeintlichen Vorrechte der Wohlhabenden gegen die Flüchtlinge verteidigen? Gegen Flüchtlinge wohlgemerkt, die voller Hoffnung auf die universellen Menschenrechte, dem eigentlichen Fundament der europäischen Idee, an den europäischen Außengrenzen ankommen?
Wie gehen wir mit diesem Selbstwiderspruch um? Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihrer Rede zur Lage der Union am vergangenen Mittwoch, klare Prioritäten gesetzt:
Zuerst kommt die Wohlstandssicherung über Green Deal, Digitalisierung und soziale Innovation. Dann, nach etwa einer Stunde Redezeit, kamen erst die so aktuellen Themen Asyl und Migration, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte an die Reihe.
Wohlstand geht vor
Das ist eine problematische Gewichtung – denn die universellen Werte, auf denen die europäische Idee ruht, bilden nicht zuletzt auch die Basis einer nachhaltigen Ökonomie für unseren Planeten. Es gibt kein zielführendes, verantwortungsbewusstes politisches Handeln ohne diesen universellen Horizont.
Vielleicht wäre auch von der Leyens Sprache kraftvoller und weniger bürokratisch gewesen, wenn sie gewagt hätte, die Prioritäten in diesem Jahr anders zu setzen. Wenn sie an die Kraft-Quelle des Friedens- und Menschenrechtsprojektes Europa angedockt hätte, aus der die Union eigentlich lebt, und ihr politisches Projekt so mit Mut und politischer Weitsicht verbunden hätte.
Es reicht nicht
Es reicht nicht aus, die erschütternden Bilder des brennenden Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos und die tausendfache Obdachlosigkeit blass als „schmerzhafte Erinnerung“ daran zu bezeichnen, dass Handlungsbedarf bestehe.
Es reicht auch nicht aus, noch einmal die Abgeordneten und Mitgliedsstaaten dazu aufzurufen, das Themenfeld Migration und Integration endlich als gemeinsame Aufgabe zu verstehen: „Jeder muss Verantwortung übernehmen“, sagte sie. Jeder müsse „sein Scherflein“ dazu beitragen
Scherflein fürs Menschenrecht
Nur: „Ein Scherflein“, ein halber Pfennig, fürs Menschenrecht, das wird eben nicht reichen. Wenn das die Größenordnung des für kommenden Mittwoch angekündigte Asyl- und Migrationspakts der Kommission ist – dürften die Menschen, die auf Zuflucht und Zukunft in Europa hoffen, sehr enttäuscht sein. Und sie sollen ja auch enttäuscht, abgeschreckt werden.
Aber: Mit einer so blutleeren und geschichtsvergessenen Attrappe von Menschenrechtspolitik verspielen wir die politische Glaubwürdigkeit der häufig proklamierten europäischen Werte.
Denn eine nur von dem Gedanken der Abschreckung gegenüber den Flüchtlingen geprägte Politik ist nicht nur aggressiv gegen die Ärmsten, sondern im wohlverstandenen Sinn auch auto-aggressiv gegen uns selbst: Es höhlt die Glaubwürdigkeit unserer eigenen europäischen Erzählung aus.
Hass lernen in Europa
Aktuell verlieren Tausende Mädchen und Jungen in den griechischen Lagern unter unerträglichen Bedingungen direkt vor unserer Haustür ihre Kindheit. Und wenn es sehr schlecht läuft, lernen sie gerade das kleine Einmaleins des Hasses, der Ohnmacht und der Unbarmherzigkeit. Es wird sich tief einbrennen, Europa ist eine strenge Lehrerin. Auch wenn sie diplomatisch lächelt wie Ursula von der Leyen.
Selbstverständlich: Barmherzigkeit ist keine politische Kategorie in einer säkularen Gesellschaft. Aber wenn wenigstens ein ehrlicher Realismus herrschen würde! Denn zum vielbeschworenen Realismus gehört es, das ganze Bild in den Blick zu nehmen. Dazu gehört die ehrliche Bestandsaufnahme, dass noch nie so viele Menschen auf der Flucht waren wie heute – rund 80 Millionen Männer, Frauen, Kinder.
Vogel-Strauß-Politik
Eine europäische Vogel-Strauß-Politik wird kein einziges Problem lösen. Europa muss viel mehr investieren – finanziell und politisch – in die Bekämpfung der Fluchtursachen und zugleich seinen Bürger*innen reinen Wein einschenken:
Die Menschen an den Außengrenzen werden nicht einfach verschwinden, wenn wir den Kopf in den Sand stecken. Wir brauchen den Mut und die Gradlinigkeit, die Türen für die Verfolgten zu öffnen. Und warum sollten wir eigentlich hartleibig und abweisend sein?
Das geeinte Europa als Friedensprojekt erzählt selbst die Geschichte einer großartig gelungenen Integration: Von Menschen aus vielen einst bis aufs Blut verfeindeten Nationen, mit unterschiedlichen Kulturen und religiösen Traditionen.
Divers und vielschichtig
Und unser heutiges Europa ist bereits heute viel diverser und vielschichtiger, auch widersprüchlicher, als es uns die plumpen Vereinfacher ohne Alternative in vielen Ländern, auch in unsrem Land, glauben machen wollen.
Wir brauchen eine zukunftsfähige Erzählung, wie wir diese zunehmende Vielfalt als Chance gestalten wollen! „Wir sind ein Berlin“- so lautet der neue Hauptstadtslogan. „Wir sind ein Europa“ – und die 12.000 Menschen auf Moria sollten nach vielen Jahren der schlimmsten Entbehrung dazugehören. Ein zukunftsfähiges Europa ist ein Integrationsprojekt im Geist der Freiheit und der Gerechtigkeit!
Engstirnige Unbarmherzigkeit
Die engstirnige Unbarmherzigkeit, die derzeit von der verwahrlosten menschenverachtenden europäischen Asyl- und Migrationspolitik ausstrahlt, zeitigt schon längst gravierende politische Folgen.
Sie vergiftet die politische Kultur, untergräbt die Werte von universalen Menschenrechten und Liberalität, auf denen das europäische Friedensprojekt und eben auch der europäische Wohlstand ruhen. Unbarmherzigkeit, systematische Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer, zerstört auf Dauer jedes Gemeinwesen.
Darum braucht das kranke Europa wenig so dringend wie eine Kultur der Barmherzigkeit (Meinetwegen auch eine Kultur der weitsichtigen Solidarität.) Eine tief verinnerlichte Haltung jedenfalls, die sich von der existenziellen Not anderer Menschen unterbrechen lässt und nicht teilnahmslos bleibt, distanziert, nur auf den eigenen Vorteil bedacht.
Maßstäbe des Miteinanders
Das ist nicht naiv, sondern politischer Realismus mit Weitsicht.
Eine Kultur der Barmherzigkeit, wie sie in den abrahamitischen Religionen wurzelt, kann helfen, die Maßstäbe des Miteinanders zurechtzurücken. Denn sie behält den notleidenden Menschen im Blick u n d sorgt für bessere Strukturen, die Not verlässlich wenden helfen.
Kein Land der Europäischen Union wäre wirklich überfordert mit der Flüchtlingsaufnahme eines namhaften Anteils von 12.000 obdach – und perspektivlos gewordenen Menschen. Auch Null-Prozent-Österreich nicht. Allein die Türkei hat mit fast vier Millionen Geflüchteten mehr aufgenommen als die gesamte EU.
Auch von den anderen Nachbarländern Syriens ist oft genug geredet worden, sie leisten unter ganz anderen ökonomischen und sozialen Bedingungen tagtäglich eine humanitäre Herkulesarbeit.
Die Bundesregierung sollte sich nicht von denen beirren lassen, die mit einer Asyl- und Migrationspolitik auf Kosten von Menschen in Not viel zu preiswert Wählerstimmen ziehen wollen.
Realistische Barmherzigkeit
Es gilt, die Debatte endlich wieder in die richtige politische Bahn zu lenken: Unter Rechtfertigungsdruck stehen nicht die vermeintlichen „Gutmenschen“ oder „Moralapostel“, die Menschlichkeit und Menschenrechte mit Augenmaß und dem Recht auf Asylrecht verbunden wissen wollen, sondern die, die uns bloße kalkulierte Hartleibigkeit als weitsichtige Politik verkaufen wollen. Es darf kein ängstliches politisches Taktieren auf dem Rücken von hilflosen Menschen geben.
Machen wir uns gemeinsam stark für eine weitsichtige politische Kultur der Barmherzigkeit. In Diakonie und Kirche haben wir beste Erfahrungen mit ihr – und mit ihrem Mut zu verantwortlichem Realismus.
Gemeinsam stark
Am Sonntag wollen wir in Berlin gemeinsam dafür eintreten, dass diese Kultur unser Zusammenleben weiterhin prägt.