Am Montag durften in vielen Bundesländern die Kinder wieder in die Kita oder Grundschule gehen. Die Nachrichten zeigten glückliche, manchmal ein wenig ängstliche Jungen und Mädchen hinter Schutzmasken. Sie freuten sich darauf, ihre Freundinnen und Freunde und die Lehrer*innen zu sehen.
Die Kinder erzählten, dass sie in der Schule besser lernen könnten als zu Hause, ein Junge machte sich Sorgen, „weil Papa doch ein Risikopatient sei.“ Ganz normale Kinder in Deutschland in der Coronapandemie.
Knapp 2500 Kilometer weiter südöstlich in Europa leben auch Kinder. Gut 30 Prozent der Menschen im Lager Kara Tepe auf Lesbos sind Kinder. 2600 an der Zahl, weiß die Kinderpsychologin Katrin Glatz-Brubakk, die mit der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ derzeit vor Ort ist.
Unter ihnen suizidale Achtjährige, Kinder, die seit Monaten nicht mehr sprechen, Zweijährige, die immer wieder ihren Kopf auf den Boden schlagen, Kinder, die sich die Haare ausreißen, sich selber beißen und die nicht glauben, dass es je wieder anders werden wird in ihrem aussichtslosen Alltag.
Sehnsuchtsort Schule
Schule ist für diese Kinder ein unerreichbarer Sehnsuchtsort, Sicherheit ein Fremdwort und das ganze Leben ein einziges, furchterregendes, schlammiges, eiskaltes Risiko voller Gewalt und ohne Hoffnung. Viele haben schon lange aufgehört zu spielen – ein furchtbares Signal.
Zur Erinnerung: Das Camp Kara Tepe wurde nach dem Brand in Moria auf Lesbos angelegt. Etwa 7500 Menschen teilen sich überschwemmte Zelte. Es gibt zu wenige Toiletten und Duschen und kaum Schutz vor Sturm und Regen. Der Nordwind bläst in diesen Tagen scharf über der Insel. Es ist ein Elend, hier ein Kind zu sein.
Wenn man den Berichten der Kinderpsychologin lauscht, die seit 2015 schon neunmal auf der Insel war, kann einen Verzweiflung packen. Und nackte Wut auf die komplett versagende europäische Flüchtlingspolitik. Spätere Generationen werden fassungslos darauf schauen, welch monströsen Menschenrechtsverletzungen wir, das „Europa der Menschenrechte“, auf unserem Territorium nicht nur geduldet, sondern systematisch begangen haben. Es ist eine Schande.
Und nicht nur das: Wenn die Menschenrechte nicht mehr für alle gelten, sondern nur noch für Ausgewählte, ist keiner mehr sicher, auch nicht wir selbst: Denn wer wählt aus, wer die Privilegierten sind, für die die eigentlich allgemeinen Menschenrechte gelten?
Seelenloses Europa
Der langjährige Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion Volker Kauder hat in der vergangenen Woche, zum Beginn der Fastenzeit, klare Worte gefunden: „Die Zustände in den griechischen Flüchtlingseinrichtungen sind mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar“, sagte er der Schwäbischen Zeitung. Und setzte fort: Wenn Flüchtlingslager etwa wie auf Lesbos das Ergebnis der europäischen Politik seien, „dann hat dieses Europa seine Seele verloren“.
Ich stimme dem voll und ganz zu: Diese seelenlose, unbarmherzige Politik der Regierungen untergräbt das europäische Projekt und gefährdet den Frieden. Wer die Idee der Menschenrechte aufgibt und mit Füßen tritt, kann keine glaubwürdige sozial gerechte Politik durchsetzen.
Was derzeit an den Außengrenzen geschieht, sät nicht nur Hass in den Herzen ungezählter Menschen, diese Politik sorgt auch dafür, dass viele Europäerinnen und Europäer selber an der Integrität der europäischen Idee und der Weitsicht ihrer Repräsentanten zweifeln.
Der Zorn der Zivilgesellschaft
Zumal in der europäischen Zivilgesellschaft, in vielen Städten und Regionen, nicht nur die Bereitschaft zu helfen groß ist, sondern auch Konzepte und Mittel bereitstehen, die das Elend der Schutzsuchenden mildern und beenden könnten.
In Deutschland etwa stehen durch den starken Rückgang der Asylzahlen 2020 in Aufnahmeeinrichtungen vielerorts Kapazitäten zur Verfügung. Bundesländer und Kommunen signalisieren genauso wie die Diakonie und andere Wohlfahrtsverbände Aufnahmebereitschaft und sichern Unterstützung zu. Allein der Bundesinnenminister verweigert seine Zustimmung und verweist auf Europa.
Traumatisierte Generation
Klar ist: Für die Kinder auf den griechischen Inseln ist jeder Tag, den sie in Angst und Verzweiflung, verbringen müssen, ein Tag zu viel. Die verantwortungslose, kurzsichtige Politik traumatisiert eine ganze Generation. Europa war für sie einmal ein verheißungsvoller Ort, der für Zuflucht und Zukunft stand, jetzt ist Europa ein Synonym für Verrat und Enttäuschung, für schiere Aussichtslosigkeit.
Nicht nur auf den griechischen Inseln, an vielen europäischen Außengrenzen ist die Situation für Schutzsuchende lebensbedrohlich, besonders in diesen Wintermonaten. An der bosnisch-kroatischen Grenze leben Menschen unter unzumutbaren Bedingungen in Wäldern und Industriebrachen. Auch unter ihnen sind viele Familien mit Kindern, unbegleitete Minderjährige und Kranke. Immer wieder versuchen sie, in die Europäische Union zu gelangen, um einen Asylantrag zu stellen.
Die Brutalität, mit der die kroatische Grenzpolizei gegen Schutzsuchende vorgeht und sie über die Grenze zurücktreibt, ist nicht hinnehmbar. Und schon die Zurückweisung verstößt gegen europäisches Recht, das die Prüfung der Schutzbedürftigkeit unter menschenwürdigen Aufnahmebedingungen garantiert.
Kein politischer Wille
In Bosnien-Herzegowina sprechen wir von etwa 10.000 gestrandeten Schutzsuchenden, auf den Inseln in Griechenland stecken 19.000 Menschen fest. Die Europäische Union könnte helfen. Es ist eine Frage des politischen Willens. Dass nichts passiert, ist eine Schande für uns alle und eine Katastrophe für die Kinder. Wir dürfen das nicht hinnehmen.