Es sind heiße Zeiten. Wer sich in diesem Jahr beim deutschen Wahlvolk um das Regierungsamt bewirbt, hat mächtige Herausforderungen vor der Brust: Nicht nur das Pandemie- und Post-Pandemiemanagement gilt es überzeugend weiterzudenken.
Die digitalen, sozialen und ökologischen Transformationsprozesse, in denen sich diese Gesellschaft bereits befindet, brauchen neue politische Konzepte, neue Antworten und neue, agilere Organisationsformen von Politik.
Wo es gut ging, ist Corona auch eine Art Vorbereitung gewesen: Das aufgezwungene Improvisieren, die schockartige weltweite Infragestellung des angeblich Normalen und die gemeinsame menschheitliche Erfahrung der Verwundbarkeit waren und sind eine harte Lektion für das, was politisch kommen wird, bewältigt werden muss und nur gemeinsam gestaltet werden kann.
Raus aus den Silos
Denn ohne die Fähigkeit zu einem faireren europäisch abgestimmten Handeln mit Blick und Verantwortung auf die weltweiten Folgen wird es nicht mehr gehen. Ohne kohärentes und lösungsorientiertes Denken und Arbeiten über die Zuständigkeits- und „Silo“-Grenzen der Ministerien hinweg auch nicht.
Es braucht mehr „Taskforce“-Strukturen und agiles Politikmanagement, statt ermüdender und manchmal kafkaesk anmutender Bürokratie. Standardisierte Antworten in altvertrautem Parteien- und Kompetenzen-Hickhack werden den komplexen Lagen nicht länger gerecht. Auch das hat Corona überdeutlich gezeigt.
Wer in diesem Wahlkampf zuerst auf Nicht-Verschrecken und Steuersenkungs-Manöver setzt, wer die unbequemen Themen lieber ausklammert – Stichworte: Rentenreform, Zukunft der Pflege oder CO2-Steuer –, sucht die Antworten im Gestern.
Gefährliches „Weiter so!“
Wer so tut, als ließen sich die Folgen des Klimawandels oder die kulturellen und sozialen Herausforderungen eines Einwanderungslandes einfach wegschweigen oder –schimpfen, und die soziale Gestaltung der Digitalisierung eher als Nebenschauplatz abtut, bleibt bestenfalls im „Weiter-so“-Modus stecken.
Schlimmstenfalls wird solch fehlender Mut zur politischen Gestaltung der sozialen und ökologischen Transformation schneller als uns lieb ist zur Verschärfung der Krise, zunehmendem Populismus und mehr Demokratieüberdruss führen.
Wir brauchen eine neue politische Erzählung für dieses Land, die alle mitnimmt, die bereit sind ihren Teil zum Ganzen beizutragen, und allen Chancen zur Mitgestaltung einräumt. Eine politische Erzählung, die Ökologie und Digitalisierung zusammendenkt und die Weiterentwicklung der sozialen Demokratie wie des Wirtschaftsstandorts Deutschland zukunftsfähig und in europäischer Perspektive neu ausbalanciert.
Wahlkampf der Bevölkerung
Uns, die Bevölkerung, erwartet der Wahlkampf, den wir verdienen. „DER BEVÖLKERUNG“ heißt Hans Haackes schöne künstlerischer Arbeit, das letzte der Kunst-am-Bau-Projekte am Reichstagsgebäude in Berlin. Denn, wenn „die Bevölkerung” keine überzeugenden Konzepte erfragt und erwartet, wird sie eben auch keine bekommen. Das ist Demokratie. Auch wir untergraben ihre Funktionsfähigkeit mit unserer Leidenschaftslosigkeit.
Ich wünsche mir einen heißen und leidenschaftlichen Wahlkampf der echten, der passionierten Entwürfe, denen es gelingt, Sehnsucht zu wecken: nach einer Welt, in der die menschenfreundliche Gestaltung von Migration und Digitalisierung, die Beseitigung sozialer Ungleichheit, mangelnder gerechter Bildungschancen und die Gesundung des Klimas als eine begeisternde Gemeinschaftsaufgabe im Interesse aller begriffen werden. Als gemeinsamer Aufbruch.
Ist das zu viel Pathos? Mag sein. Aber vielleicht lassen sich ein wenig mehr Pathos und mehr Emotion gut mit pragmatischem Verstand und agilem politischen Handeln verbinden?
Unverschämte Versprechen
Die leeren Narrative vom grenzenlosen Wachstum, das Aufbäumen der alten Nationalstaatsegoismsen, die nebulösen Versprechen von Scheinsicherheit sind im Grunde eine Unverschämtheit. Bereits für den gesunden Menschenverstand, der ja durchaus in der Lage ist, langfristiger zu denken und den Blick über den eigenen Tellerrand zu heben.
Noch einmal: Wir brauchen eine neue politische Erzählung, eine zündende Leitidee, die Freiheit weiterdenkt und mit einer menschenfreundlichen und die natürlichen Lebensgrundlagen erhaltenden Einschränkung eines entfesselten Neoliberalismus und Kapitalismus verbindet. Dafür braucht es Leidenschaft und Klugheit. Und es braucht die Beteiligung aller.
Die „Entweder-oder“-, „Wir oder die“-, „Ganz oder gar nicht“-Szenarien, die von der Migrationspolitik bis zum Tempolimit wieder und wieder aufgewärmt werden, haben keine transformierende und ansteckende Kraft.
Sie ermüden mich und viele andere. Wieder auf sie zu setzen, ist im Grund ein Verrat an der Zukunft unserer Gesellschaft. Es braucht neue, wahre Geschichten mit Realitätssinn, an denen sich Zukunftsfreude entzünden kann.
Geschichten, die sich in verbindenden „Sowohl-als auch“-Konzepten entfalten und das erstarrte Lager-Denken mit den verstohlenen Blicken auf die Sonntagsfrage des Politbarometers hinter sich lassen.
Wer hat das Politikangebot für die Zukunft eines neuen Deutschlands in einem vereinten demokratischen Europa der Nachhaltigkeit und der sozialen Gerechtigkeit?
Zukunft gemeinsam gestalten
Es geht nicht um schmallippige Verzichtsdrohungen, sondern um die Gestaltung eines menschen- und umweltgerechteren Miteinanders in einer sich rasant digitalisierenden Gesellschaft. Und zwar jetzt. Darüber müssen wir alle miteinander ins Gespräch kommen.
Und vielleicht findet genau dann doch der Aufbruch statt, nach dem sich so viele Menschen sehnen: die Rast- und Ruhelosen, die Kleingärtnerseelen und Gamer, die Ordnungshüter und Couchpotatos, die Unternehmerinnen aller Hautfarben und Weltanschauungen.
Jedenfalls sollten wir einen solchen Aufbruch durch einen Bundestagswahlkampf der Partikularinteressen und „Weiter-so“-Langeweile nicht von vorne herein schon ausschließen!
Im Neuanfangsklima
Ohne Aufbruch und Leidenschaft wird das nicht gehen. Ohne „Neuanfangsklima“ in den Köpfen und Herzen auch nicht. Verbunden mit dem zähen Willen, die vielfältigen kleinen und großen Neuanfänge da, wo wir zuhause sind, in den Alltag, in die Strukturen und Gewohnheiten zu übersetzen. Und zwar so, dass alle, möglichst viele, dabei vorkommen.
Wir alle tragen gemeinsam Verantwortung. Und wir wollen nicht noch mehr Verliererinnen und Verlierer, wir wollen keine Geschichten vom Weltuntergang oder von feindseligen „-ismen“ aller Art mehr hören oder erzählen, sondern endlich ansteckende überzeugende Geschichten vom Erfinden einer neuen Welt in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit.
Ich denke an einen Satz aus dem Buch Jesaja, der mir lieb und teuer ist: „Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?“ (43, 18)
Rechnen und träumen
Wir brauchen jetzt mutige, weitsichtige und kluge Menschen in politischer Verantwortung. Unbestechliche Teams aus Entdeckertypen, Pfadfinderinnen und Improvisationskünstlern mit „geerdeten“ Visionen. Leute, die rechnen und träumen können und Kinder und Tiere mögen. Etwas plakativ, zugegeben. Aber: Wenn wir bereit sind über Generationengerechtigkeit und den Klimaschutz nachzudenken und entsprechend zu handeln, geht es um die Zukunft der uns anvertrauten Kinder und der Tiere,
Das ist der leidenschaftliche oder, wenn Sie so wollen, diakonische Blick. Den wünsche ich mir in jeder politischen demokratischen Partei. Daraufhin können wir die Parteiprogramme abklopfen und die Kandidat:innen in den Wahlkreisen auf Herz und Nieren prüfen:
Auf Herz und Nieren prüfen
Wo sehen sie unser Land, Europa, die Welt in 10 Jahren? Welche Weichen sind sie bereit zu stellen? Wie organisieren sie Vielfalt? Und Mobilität? Wie wollen sie die Steuerkassen füllen und für was wollen sie unser Geld ausgeben? Wie sollen Schulden abgebaut werden? Welche Ideen von Bürgerbeteiligung haben sie? Grundsätzlich: Für welches Wir denken sie?
Bitte, reden Sie mit, mischen Sie sich ein, fragen Sie nach, lassen Sie nicht locker. Und lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen. Sie sind wichtig, Sie verdienen echte Antworten. Wie gesagt: Wir bekommen genau den Wahlkampf, den wir verdienen.
Der diakonische Blick
Eine Auswahl diakonischer Wahlprüfsteine findet sich übrigens auf der Homepage von Diakonie Deutschland. Und ab Ende Juli wird auch der Sozial-o-mat wieder bei der Meinungsbildung unterstützen.
In dieser Woche tagte der Deutsche Bundestag zum letzten Mal vor der Sommerpause. Herzlichen Dank allen politisch und demokratisch Engagierten! Ab jetzt geht es um die Frage, welches Land in welcher Welt wir zukünftig sein wollen.