Sich flüchten – wohin?

Nein, „wir“ können und wir sollen um Himmels Willen nicht „alle“ aufnehmen! – Aber natürlich können wir als Gesellschaft viel mehr tun, um den unzähligen Menschen auf der Flucht gerecht zu werden. Dazu fehlen uns nur leider zu oft Phantasie, politischer Wille und ein integrations- und sozialpolitisches Gesamtkonzept, das auch die Hoffnungslosen, die Verunsicherten, die Verzweifelten und Abgehängten im eigenen Land nicht vergisst.

Frauen in sommerlicher Fußgängerzone
Welches Land wollen wir sein? Einkaufsstraßen-Normalität im Einwanderungsland Deutschland. Foto: epd-bild/Annette Zoepf

Nicht ohne Grund -Weltflüchtlingstag

Sonntag ist Weltflüchtlingstag. Seit 20 Jahren ruft die UNHCR am 20. Juni dazu auf, das Schicksal der inzwischen über 82 Millionen Menschen, die derzeit auf der Flucht sind, nicht zu vergessen. Weder die Vertriebenen, Entwurzelten und Perspektivlosen, noch die Träumenden, die Hoffnungsvollen und Unbeirrbaren. Unter ihnen viele Kinder und Jugendliche. Nicht ohne Grund wird dazu aufgerufen, sie nicht zu vergessen.

Denn jedes Jahr werden es mehr. Die Regionen auf dem Globus, in denen das Leben keine Zukunft bietet, nehmen zu: Kriege und Bürgerkriege, Menschenrechtsverletzungen, Armut, die Folgen des Klimawandels – die Ursachen, die Menschen auf den Weg zwingen, sind vielfältig und bekannt.

Europa zäunt sich ein

Die Wahrheit ist: Im wohlsituierten Europa kommen nur wenige dieser Menschen an. Denn Europa zäunt sich ein. Ich erinnere mich noch sehr genau an ein entwicklungspolitisches Seminar in der Missionsakademie in Hamburg vor vierzig Jahren. In diesem Seminar sagte ein Dozent hellsichtig exakt die aktuelle Entwicklung voraus.

Es ist erschreckend zu sehen, wie recht er behalten hat: In Griechenland, Westbalkan, Ceuta und Mellila, auf den Kanaren und auf Lampedusa, vegetieren derzeit schätzungsweise Hunderttausend Menschen in überfüllten Elendslagern oder auf den Straßen im Nirgendwo. Ohne Aussicht auf ein faires Asylverfahren.

Tausende ertrinken jährlich im Mittelmeer beim Versuch, Europa zu erreichen. Es gibt inzwischen eine schreckliche Gewöhnung an diese schrecklichen Nachrichten.

Die Bilanz der Flüchtlingspolitik der vergangenen Jahre ist ernüchternd. Abschottung statt Integration. „Wer da im Mittelmeer ertrinkt, ist mir egal“, gestand mir ein Berliner Taxifahrer neulich freimütig, bevor ich nach heftiger Debatte ausstieg.

Ernüchternde Bilanz

Die Stimmung im Land ist entsprechend: Auf die Frage, ob Deutschland angesichts der weltweit steigenden Flüchtlingszahlen mehr Geflüchtete aufnehmen sollte, sind nur 28 Prozent der Befragten dafür, 63 Prozent aber dagegen. So das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage, die Civey im Auftrag von Diakonie Deutschland Anfang Juni durchgeführt hat.

Die andere Frage, die uns interessierte, lautet: „Sind die Geflüchteten, die in den vergangenen zehn Jahren nach Deutschland gekommen sind, Ihrer Meinung nach gut in der Gesellschaft angekommen?“ Auch hier fällt das Fazit der Mehrheit negativ aus: rund 58 Prozent sehen das nicht so. Fast 28 Prozent meinen „teils-teils“, und nur 12,5 Prozent bejahen diese Frage rundum.

Wenn man, wie die Diakonie, jeden Tag in Tausenden Einrichtungen unterschiedlichster Art nah an und mit den Menschen arbeitet, sie berät und begleitet, sind die Ergebnisse der Umfrage nicht völlig überraschend – ernüchternd sind sie trotzdem:

Es gibt Erfolgsgeschichten

Die Aufnahme und Integration von Geflüchteten wird von einer Mehrheit der Deutschen nicht als Erfolgsgeschichte erlebt, wahrgenommen und beschrieben. Und das, obwohl sich die tatsächliche Situation sehr wohl differenzierter darstellt.

Beispiel Arbeitsmarkt: Über 50 Prozent der anerkannten Flüchtlinge sind erwerbstätig und in den Arbeitsmarkt integriert. Zwar viele im Niedriglohnbereich, aber es ist ein Anfang.

Hier hat sich sehr positiv ausgewirkt, dass erstmals der Zugang zu Integrationskursen schon während des Asylverfahrens möglich gemacht wurde. Mit einer stärkeren Integrationsoffensive wäre zweifellos noch mehr möglich.

Doch diese Chance wurde vertan, weil zu viele immer noch nach rechts schielen- trotz anderslautender Bekundungen. Mit Folgen: Die guten Nachrichten und Geschichten gelungener Integration verschwinden unter den Sorgen und mitunter schrillen Bedenken der Mehrheitsbevölkerung. Auf Kosten der Geflüchteten – und ihrer möglichen erfolgreichen Integration.

Verheerende Rhetorik

Selbstverständlich ist nicht jede Kritik an Migration unbegründet oder gar rechtsextrem! Allerdings wirkt die zu oft dahingesagte „Das Boot ist voll“-Rhetorik verheerend: als verstärkender Resonanzboden für die „Wir-oder-Ihr“-Logik der furchtbaren Vereinfacher.

Warum gibt es für das genaue Hinsehen so wenig Raum? Was sind die Ursachen und Gründe für die Skepsis der Mehrheit? Und wo können, wo müssen Politik und engagierte Zivilgesellschaft nachsteuern? Diese Fragen sollten wir bald beantworten und uns den mit ihnen verbundenen Herausforderungen endlich stellen.

Schatten der Leitkultur

Denn: Es bleibt angesichts der katastrophalen Lage ja eine humanitäre Verpflichtung für das reiche Deutschland und für ein Europa der Menschenrechte, mehr geflüchtete Menschen aufzunehmen. Doch es gilt auch: Nur eine Gesellschaft, die die Aufnahme von Flüchtlingen grundsätzlich und mehrheitlich zumindest akzeptiert, schafft überhaupt erst eine nachhaltige Grundlage für eine weitere Aufnahme von Menschen und ihre Integration.

Hier wirft noch heute die viel zu lang geschürte Sehnsucht nach kultureller Hegemonie („Leitkultur“) ihren Schatten in eine schwierige Zukunft. („Deutschland ist kein Einwanderungsland“ – so lautete noch die Devise der schwarz-gelben Koalition unter Kanzlerin Merkel.) Eine wirklich breite zustimmende Haltung zu einem Deutschland der Vielfalt gibt es noch nicht wirklich. Und erst recht kein einladendes politisches Narrativ.

Sorgen ernst nehmen

Ein erster Schritt zu einer fairen und nachhaltigen Integrationspolitik wäre, die fortschreitende gefühlte und reale soziale Spaltung, die Ungleichheit der Lebensverhältnisse und die tiefgehende kulturelle Verunsicherung in unserem Land wahr- und ernst zu nehmen. Dazu raten wir aus diakonischer Perspektive.

Denn es ist natürlich besorgniserregend, dass eine wachsende Zahl von Menschen im viertreichsten Land der Welt die eigene soziale Lage als zunehmend unsicher und prekär erlebt. Und zwar nicht erst seit der Corona-Pandemie.

Nach dem jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat und sieht ein Drittel der Menschen so gut wie keine Möglichkeit zum sozialen Aufstieg. Verlustängste prägen längst auch den alten Mittelstand unseres Landes: eine soziale Einbetonierung, die die Gesellschaft spaltet und einer menschenfreundlichen Solidarität schnell den Nährboden entzieht.

Und wie soll eine derart verhärtet-geängstigte Gesellschaft eine am Wohl aller orientierte Vision für Deutschland überhaupt entwickeln können? Wie im Mit- und nicht im Gegeneinander die Lösung erkennen?

Keine Perspektive?

„Wo komme ich in dieser Gesellschaft mit meinen Bedürfnissen eigentlich noch vor?“, fragen sich heute viele. Wer keine Perspektiven für sich sieht, wer an und unter dem Existenzminimum zurechtkommen muss, wer keine Aufstiegsperspektive für sich und seine Kinder erkennt, verlässt zwar in der Regel nicht das Land, das immer noch recht behaglich ist. Aber er (oder sie) macht schneller dicht – auch gegenüber Geflüchteten.

Wer den Staat im eigenen Alltag nicht als Unterstützung, sondern als „Hartz-IV-Polizei“ erlebt, oder im selben Quartier mit Geflüchteten um die knappe Ressource Wohnraum konkurriert, wird nicht ernsthaft daran interessiert sein, beim „Integrieren“ zu unterstützen.

Wir oder Die?

Und auch die Angestellten und Selbstständigen, die um ihre Existenz bangen, um die Bildungs- und Aufstiegschancen ihrer Kinder, um die Sicherung im Alter sind nicht immun gegen die Einflüsterungen gemäß dem alten Mindestselbstwert rettenden Motto „Wir oder Die“. Auf irgendwen muss Frau oder Mann doch herabsehen können: Und das lebensgefährliche Virus Antiislamismus, Antisemitismus und Alltagsrassismus grassiert mitten in Deutschland.

Dazu kommen  die Megatrends Globalisierung und Digitalisierung. Sie haben auch unsere scheinbar unverrückbar sicher stehende Gesellschaftsordnung längst „auf Räder gesetzt“: Die rasanten Veränderungen von Arbeits- und Lebenswelten erschüttern die alten Sicherheiten und schaffen neue Unsicherheiten.

All das rechtfertigt weder Fremdenhass noch rechte Parolen. Aber es macht Angst. Und Angst ist kein guter Ratgeber. Tiefsitzende Unsicherheit nährt allzu simple Erklärungsmuster und lässt das vergiftete Mantra der rechten Vereinfacher umso mächtiger wirken: „Entweder die Deutschen oder die Geflüchteten“. Das bereitet den Nährboden für menschenverachtende, Neid schürende Narrative, die unsere Gesellschaft noch stärker polarisieren und entsolidarisieren werden.

Gemeinsam im Quartier

Diesem fatalen Teufelskreis lässt sich nur mit einer umfangreichen und aktiven Sozial-, Kultur- und Bildungspolitik entkommen, die allen ökonomische, soziale und demokratische Teilhabe, Aufstiegschancen und Sicherheit ermöglicht: Sowohl Einheimischen als auch Geflüchteten.

Sozial- und Integrationspolitik gehören untrennbar zusammen! Und sie müssen im täglich erlebten Sozialraum, im eigenen Quartier, tatsächlich erlebbar sein. Die Kommune ist auch der Ernstfall von Sozial- und Integrationspolitik.

Eine solch umsichtige und verantwortliche „Sowohl-als-auch“-Politik, die verbindet und nicht spaltet, bildet auch das Fundament für einen verantwortungsvollen Pragmatismus, mit dem weitere Geflüchtete aufgenommen und gut integriert werden können.

Außerdem: Wenn die zählebigen „Entweder-oder“-Narrative widerlegt werden sollen, brauchen wir die guten Geschichten vom Gelingen der Integration. Unter dem Dach der Diakonie können wir viele solche ermutigende Zukunftsgeschichten erzählen:

Geschichten vom Gelingen

Zum Beispiel vom Refugio in Berlin-Kreuzberg – einem Wohnprojekt der Berliner Stadtmission für Einheimische und Geflüchtete. Von der diakonischen Begegnungsstätte Auer Brücke im Erzgebirge, wo sich Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen auf dem Weg machen, um Vielfalt zu leben und Vorurteile abzubauen.

Oder vom Projekt „Work First“ für und mit geflüchteten Frauen, das vom Arbeitslosenfonds der rheinischen Kirche, der dortigen Diakonie und vom Jobcenter Köln gefördert wird. Es gibt unzählige solcher guten Beispiele und ungezählte unerzählte gute Geschichten – von interkulturellen Erfahrungen in Kindergärten, Demenzwohngruppen oder Seniorenwohnprojekten, in Sportvereinen bis hin zu Ausbildungsbetrieben.

Die vergangenen Jahre aber hat das immer noch tiefenwirksame Mantra der Abschottung die Politik dominiert. Keineswegs war früher alles besser. Im Gegenteil: Wir hätten es besser machen können. Zäune sind keine haltbare Antwort auf die globalen Herausforderungen der Gegenwart.

Neue Politik, neue Erzählung

Es ist hohe Zeit für eine neue politische Erzählung – für die Europäische Union, aber auch für das Einwanderungsland und die längst vielfältige Bundesrepublik Deutschland.

Sonntag ist Weltflüchtlingstag und Samstag begeht Deutschland den „Tag der Offenen Gesellschaft“: „Entweder, oder“ oder „Sowohl, als auch“? Beide Tage erinnern daran: Wir sind nach einer neuen Erzählung und nach einer neuen Politik gefragt.