Wer Wahlen gewinnt

Es war wieder eine Woche der Torten- und Balkendiagramme und der Prozentzahlen. So sieht es aus, wenn wir versuchen, besser zu verstehen, was an einem Wahltag genau passiert ist. Wenn persönliche Entscheidungen in vergleichbare Zahlen übersetzt werden, die Orientierung versprechen: für Koalitionsgespräche, politische Einschätzungen, Entscheidungen und für kommende Wahlkämpfe.

Diakonische Perspektive: Der konkrete Mensch ist mehr als eine Zahl. Luftballon-Aktion der Diakonie Mitteldeutschland in Halle/Saale. Foto: epd-bild/Jens Schlüter

Klar ist: Hinter jeder abgegebenen Stimme steht ein einzelner Mensch. Eine persönliche Lebensgeschichte, die es verdient gehört zu werden. Ein Mensch, der einen Platz und Entfaltungsraum braucht zum Leben. Jeder, jede einzelne ist wichtig, und er oder sie ist immer mehr als eine Zahl.

Eine Wahl gehabt

Sachsen-Anhalt hat also gewählt. 60,3 Prozent der Wahlberechtigten hat von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, sagt infratest dimap. Im Durchschnitt. In manchen Regionen ging nur jeder zweite zur Wahl, in Halle und Magdeburg waren es teilweise über 72 Prozent.

Von den unter 24-Jährigen haben 18 Prozent AfD und 13 Prozent Grün gewählt. Bei den 25-34-Jährigen gingen 10 Prozent der Stimmen an die Grünen und 27 Prozent an die AfD. In der Altersgruppe 60 plus liegt die CDU mit 46 Prozent klar vorne. Die Werte differenzieren sich weiter, wenn man sich die Geschlechter anschaut oder die Regionen miteinander vergleicht.
Aber was lässt sich so in Erfahrung bringen über die einzelnen Menschen, die gewählt haben?

Die Wahlforschung fragt nach Themen, die wahlentscheidend gewesen sein sollen: Themen wie soziale Sicherheit, Klimaschutz, Wirtschafts-, Migrations- oder Bildungspolitikpolitik. Welche Rolle spielte der Umgang mit der Corona-Krise?

Gewinnen und verlieren

Welcher Partei trauen die Menschen zu, dass sie ostdeutsche Interessen tatsächlich im Blick behalten und sich dafür auch einsetzen? Auch die Positionierung Sachsen-Anhalts bei der Frage nach der Rundfunkgebühr spielte bei vielen Wählerinnen und Wählern mit in die Wahlentscheidung ein. Es ist aufschlussreich, die Diagramme auf sich wirken zu lassen. Ohne Frage.

So interessiert sich ein Fragefeld der Wahlforscher dafür, wie Menschen ihre wirtschaftliche Situation einschätzen, ob sie sich als Gewinner oder Verlierer erleben, und ob sich in den vergangenen Jahren ihre Lebensumstände in der eigenen Region verändert haben.

72 Prozent der Menschen, die am vergangen Sonntag die Grünen gewählt haben, sehen sich eher als Gewinner. Bei der AfD sind es 36 Prozent. Aber was bedeutet das?

Traum vom guten Leben

„Die Kommune ist der Ernstfall der Demokratie“ – lautet ein bekanntes politisches Bonmot des früheren Bundespräsidenten Johannes Rau. Ob und wie Politik funktioniert, entscheidet sich dort, wo die Menschen zuhause sind, wo sie ihren Alltag leben: Wie fühlt sich das Leben in meiner Heimatstadt an, wie lebt es sich in meiner Nachbarschaft? Wie ist es dort, Kinder zu haben? Kann ich da alt werden – oder meine Eltern?

Findet der ehemalige Kollege wirklich Unterstützung in Zeiten von Arbeitslosigkeit? Bedroht mich dieses Schicksal bald ebenfalls? Kann ich mich sicher fühlen, wenn ich „anders“ bin als der „Mainstream“? Oder fühle ich mich eher als „Mainstream“, der von den „Anderen“ bedroht wird? Gibt es einen Platz in der Kita oder Schule für meine Nichte mit ihrer Beeinträchtigung und ihrem Traum vom guten Leben?

Mehr als eine Zahl

Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten noch viele Prognosen, Balkendiagramme und Berechnungen zu sehen bekommen. Und natürlich ist die statistische Verallgemeinerung des konkreten Lebens nützlich und aufschlussreich.

Aber es ist genauso entscheidend, nie zu vergessen, dass „die Wirklichkeit“ der Lebensumstände eines konkreten Menschen viel konkreter und zugleich komplexer und vielschichtiger ist. Sie lässt sich nicht in Zahlen sperren. Nirgendwo – und auch in Sachsen-Anhalt nicht. Das ist weder Besserwisserei noch Binsenweisheit. Das ist eine Anmerkung aus diakonischer Perspektive.

Denn – sei es in der Kinderstation oder im Hospiz, in der Jugendhilfe, Schuldner- oder Suchtberatung, in Flüchtlings- oder Obdachlosenarbeit, bei der Bahnhofsmission oder der Telefonseelsorge – in jedem der vielen und so unterschiedlichen Arbeitsbereiche der Diakonie gilt: Wo es diakonisch zugeht, wird – wenn es gut geht – immer der einzelne Mensch mit seinen Erfahrungen, Begabungen und mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen.

Diakonische Perspektive

Egal, ob man (oder frau) als Vorstand diakonisch tätig ist, als Pflegefachkraft, Fachreferentin für Migration und Flucht, in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung, als Facility Manager oder freiwillig engagiert: In der Diakonie kann es nie allein um Strukturen oder Zahlen gehen. Auch nicht um die Einhaltung von abstrakten Normen oder Wahrheiten.

Und wo der Streit um Strukturen, Zahlen, Recht und Wahrheiten den einzelnen Menschen aus dem Blick verliert, läuft auch in der Politik etwas gründlich falsch. Davon bin ich überzeugt.

Im diakonischen Fokus wie im Fokus guter Politik steht immer ein konkreter Mensch in einer konkreten Situation mit einem konkreten Anliegen oder in einer konkreten Notlage. Und in jedem dieser einzelnen Menschen bildet sich ab, wie „das System“, wie Politik, Gesellschaft oder eben freie Wohlfahrt auf Menschen wirken. Konkreter geht es nicht. Weniger komplex auch nicht.

Respekt erwarten dürfen

Darum weisen wir in der Diakonie niemanden ab, der uns aufsucht. Selbst wenn wir seine, ihre Meinung ausdrücklich nicht teilen. Unter unseren Kunden, Klientinnen, Gästen und Bewohner:innen und ihren Angehörigen finden sich sehr unterschiedliche Menschen aus dem gesamten breiten politischen Spektrum. Lauter Individuen, die ein Recht darauf haben, wahrgenommen zu werden, wie sie sind und wo sie sind. Die Respekt verdienen, wie wir von ihnen Respekt erwarten dürfen.

So wirkt Diakonie dabei mit, die Versprechen des Sozialstaates einzuhalten. So arbeiten viele hunderttausend Menschen jeden Tag ganz konkret an der Entwicklung von Gemeinsinn. Indem sie sich – im wohlverstandenen Sinn – mit fast jedem und jeder gemein machen. Mit einer Einschränkung: Menschenfeindlichkeit  dulden wir nicht, in keiner ihrer hässlichen Spielarten.

Diese Haltung ist anspruchsvoll. Und alle, die unter den vielfältigen Dächern der Diakonie arbeiten, sind selbst immer wieder gefragt, ihr Engagement, Denken und Handeln jeden Tag und jede Nacht entsprechend scharfzustellen – auf den einzelnen konkreten Menschen, der mir heute zum Nächsten wird.

(Für die Christ:innen unter uns: Jesus würde ihn oder sie fragen: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ Im Grunde die schönste Frage, die man einem Menschen stellen kann. – Probieren Sie es aus.)

Wo alle gewinnen

Wo diese Perspektive das politische Denken und Handeln tiefer durchdringt, besteht eine gute Chance, dass wirklich alle gewinnen.