Ich möchte im neuen Jahr meine Fähigkeit zu staunen und zur Dankbarkeit trainieren. Auch als Diakonie-Präsident. Damit sich etwas verändern kann. Und verändern soll sich 2022 ja eine Menge – in der Pandemie und beim Pflegenotstand, bei der Kinderarmut und beim Klimawandel. Um nur vier Themen von erheblicher nationaler und internationaler Bedeutung zu nennen. Und wir wissen alle, dass schon die Haltung, mit der wir einer Situation begegnen, etwas verändert und Einfluss hat auf die Suche nach guten Lösungen.
Dankbarkeit und Staunen
Jede Emotion überträgt sich. Im zwischenmenschlichen, aber auch im gesellschaftlichen Miteinander. Ungeduld, Zorn, Sorge oder Angst genauso wie Entwertung der Anderen sind ansteckend. Wie wäre es einander, gerade auch in unseren Konflikten, dankbarer und staunender zu begegnen?
Selbstverständlich soll nichts weggedrückt werden, es ist wichtig, auch negative Empfindungen wahrzunehmen und sie nicht einfach zu übergehen. Aber nie sollten sie wichtige Entscheidungen dominieren. Dankbarkeit und Staunen entfalten eine konstruktive Kraft. Und dieses Potenzial gilt es zu nutzen – auch politisch und gesellschaftlich.
Einen Anfang macht die Diakonie in Deutschland in dieser Woche: Wir wollen die in unserem Land stärken, die dankbar sind, dass es eine Strategie, ein Mittel gibt, um sich gegen das Virus zur Wehr zu setzen: „Impfen schützt“ ist der Titel der neuen Kampagne.
„Danke! Ihr Geimpften.“
Sie ist in dieser Woche auf unseren Social Media-Kanälen und mit einer Webseite gestartet. Im Laufe des Monats wird sie auch in den Innenstädten und am Straßenrand zu sehen sein. Die großformatigen violetten Plakate im bewährten Design der Unerhört-Kampagne sagen: „Danke! Ihr Geimpften.“
Auf unseren Kanälen werden sehr unterschiedliche Menschen zu Wort kommen, die erklären, warum sie sich haben impfen lassen. Manche durchaus zögernd und erst nach längerem Nachdenken. Nicht nur Profi-Fußballer, jede und jeder hat mindestens drei Versuche, seine Haltung zu überprüfen. Und wieviel lernen wir in der Pandemie täglich dazu!
Diese Lernprozesse, in denen wir alle stecken, und über die wir uns so leidenschaftlich kontrovers austauschen, sind übrigens auch ein Grund zur Dankbarkeit. In autoritären Regimen werden solche Prozesse brutal unterdrückt.
Ich staune auch über die vielen so verschiedenen Menschen, die sich in kürzester Zeit bereit erklärt haben, uns bei dieser Kampagne zu unterstützen. Es gibt so viel Solidarität! So viel Bereitschaft, noch einmal ins Gespräch zu gehen und beim Überzeugen mitzuhelfen. Zusammen setzen wir uns dafür ein, dass die Macht der Pandemie im dritten Jahr hoffentlich gebrochen werden kann, und ihr tiefgreifender Einfluss auf unser aller Leben auf ein erträglicheres Maß zurückgeht.
Gute Nachrichten
Die überwältigende Mehrheit der Menschen im Land hat ja längst verstanden, um was es geht: Sie lassen sich impfen, halten sich an Abstands- und Hygiene-Regeln, nehmen die Testangebote wahr, überlegen vorher, welche Aktivitäten sein müssen und welche nicht.
Das Verantwortungsgefühl ist groß. Wie auch das Vertrauen in die international millionenfach bewährten Impfstoffe. In Kürze werden auch die sogenannten Totimpfstoffe zum Einsatz kommen, auf die viele warten.
Die gute Nachricht ist doch: Wir können uns gegenseitig schützen und gemeinsam dafür sorgen, dass die Krankheitsverläufe milder, die Intensivstationen und Krankenhäuser entlastet werden, und viel weniger Menschen am Virus und seinen Folgen sterben.
Netzwerk der Nächstenliebe
Es ist konstruktiv, auch in der Krise weiterhin konstruktiv zu denken: Gemeinsam können wir Kräfte mobilisieren und ein engmaschiges Netz der Menschenfreundlichkeit knüpfen. Wir können Leben retten.
Jede und jeder einzelne von uns kann Teil dieses Netzwerks werden, ob alt oder jung, hochbegabt oder schwerstbehindert, mit oder ohne deutschen Pass. Ein großartiges, vielfältiges Netzwerk der konstruktiv denkenden Menschen, das sich durch Zusammenhalt, Rücksicht und Verantwortung auszeichnet. Die Christenheit nennt diese Haltung schlicht „Nächstenliebe“. – Und die Menschen, die sich tatsächlich nicht impfen lassen können, schützen wir mit.
Es gibt mehr Gründe zum Staunen als zum „Haten“: So viele großartige Ärzt:innen, soviele Pflegekräfte, die immer noch jede Nacht und jeden Tag rund um die Uhr ihr Bestes geben. Selbstverständlich auch für die Ungeimpften, die beatmet werden müssen.
Rotes Tuch: Impfpflicht
Ob sich etwas ändern wird, wenn die Diakonie in Deutschland dem derzeitigen Trigger-Thema Nummer 1, dem Impfen, auf diese Weise begegnet? Bei kaum einem Thema entflammen die Debatten aktuell so schnell, so polarisierend. Das beobachten wir ständig auch auf unseren Social Media-Kanälen.
Eine Impfpflicht ist für manche ein rotes Tuch. Im Frühjahr wird sie für Menschen, die mit vulnerablen Gruppen arbeiten, zur Pflicht. Ich finde das – als ersten Schritt – wichtig und richtig. Und hätte es doch selbst vor wenigen Monaten noch ausgeschlossen.
Aber ich habe dazugelernt, wie viele andere auch: Und der Lernweg zu dieser neuen Position war bitter: Sehr viele, viel zu viele Menschen sind gestorben, während ich und andere unsere Meinung geändert haben. Viele haben zwar überlebt, aber zahlen nun mit Long-Covid-Symptomen jeden Tag einen sehr hohen Tribut – manche vielleicht lebenslang.
Freiheit und Pflicht
Die persönliche Freiheit ist auch für mich ein sehr hohes Gut, aber in diesem konkreten Fall der Pandemie halte ich einen Verzicht auf diesen Aspekt persönlicher Freiheit für angebracht, für not-wendig, im Wortsinn. Wir haben nicht nur ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, wir haben auch eine Pflicht, das Leben, die Gesundheit der anderen zu schützen, gerade das der Schwächsten.
Hier gilt es abzuwägen – und zu erkennen: Eine Pandemie ist eben keine Privatsache. Man erkennt es schon an der Bedeutung der altgriechischen Worte „pan“(umfassend, alles) und „demos“ (Volk): Niemand bleibt hier außen vor. Und auch zur Bewältigung einer Pandemie braucht es eben alle: Ohne Solidarität wird es nicht gelingen, diese Naturkatastrophe zu besiegen.
Zukunftsfähige Balance
Wir lernen aktuell ja auch bei anderen großen Herausforderungen, eine neue angemessene und zukunftsfähige Balance aus Freiheit und Pflicht zu finden: bei unserem Umgang mit endlichen Ressourcen wie Luft, Wasser und Erde, bei unnötigen Flügen oder Dienstreisen durch die ganze Welt. Das Finden dieser Balance geht selbstverständlich nicht ohne Streit und Auseinandersetzung ab. Das ist auch gut so in einer lebendigen Demokratie.
Eine weitere Einsicht dieser Zeit ist für mich: Manchmal müssen wir uns als Einzelne in die Pflicht nehmen (lassen) und uns beschränken, um die Freiheit und Zukunft aller zu schützen. Zum Beispiel die Freiheit und die Zukunft der folgenden Generationen, denen wir keine Erde übergeben dürfen, deren Klima durch einen übersteigerten Egoismus im Namen grenzenloser Freiheit völlig aus den Fugen geraten ist.
Corona-Verlierer
Wie immer gibt es gefühlte und tatsächliche Gewinner und Verlierer, auch bei den Impf-Debatten: Die zu zahlreichen Menschen, die darunter zu leiden haben, dass ihre medizinischen Behandlungen wegen Corona verschoben werden müssen, sind etwa tatsächliche Verlierer. Oder die in einem akuten Notfall keinen Platz auf der nächsten Intensivstation mehr finden.
Und alle, die über der Belastungsgrenze arbeiten, weil so viele der Ungeimpften immer schwerer erkranken und immer öfter sterben. Unnötig sterben. Aber auch das junge Mädchen mit der chronischen Atemwegserkrankung in unserer Nachbarschaft, die sich aus Angst vor Ansteckung kaum mehr aus dem Haus traut, gehört zu diesen tatsächlichen Verliererinnen.
Voraufklärerischer Un-Geist
Mich erinnert die aufgeheizte Tonalität, das merkwürdig Bekenntnishafte im Impfstreit auf beunruhigende Weise an die längst überwunden geglaubte Rhetorik einer vergifteten, voraufklärerischen Religiosität. Und von diesem Un-Geist und seinen quasi-religiösen Konzepten von „Reinheit und Unreinheit“ fühle ich mich in meiner Freiheit tatsächlich viel stärker bedroht, als von einer etwaigen Impfpflicht.
Mitten im öffentlichen, sich gerne säkular verstehenden Raum, erheben sich plötzlich merkwürdige Gesundheitspropheten, Eiferer und Dogmatiker:innen. Sie inszenieren sich als Opfer einer angeblichen Verfolgung und sind offenbar bereit, für ihre „reine Wahrheit“, die sie leichtgläubig aus dubiosen Quellen beziehen, andere Menschen sterben zu lassen.
#Impfen schützt
Auch die Diakonie wird mit dieser Kampagne nicht alle erreichen und überzeugen. Erst recht nicht die Personen und Gruppierungen, die mit neonazistischem Vorsatz in der glimmenden Unsicherheit der Menschen herumstochern – in den Echokammern der Sozialen Medien beispielsweise.
Ich bin aber überzeugt, vernünftige und weitsichtige Regeln, die nach einer kontroversen parlamentarischen Debatte von der Mehrheit festgelegt werden, können auch dabei helfen, manche zu destruktiv aufgeladene Debatte zu beenden.
Darum ist es jetzt eine wichtige demokratische Aufgabe, solche vernünftigen Regeln aufzusetzen und in einem demokratischen Rechtsstaat durchzusetzen. Eine solche Politik hat, nach langer Debatte auf diesem schmerzlichen Weg zur gemeinsamen Einsicht, eine überdeutliche Mehrheit der Bevölkerung hinter sich.
Die Würde des Sozialen
In der ersten Impfkampagne vor einem Jahr ging es der Diakonie vor allem darum, zum Impfen aufzurufen und Menschen aus dem Gesundheits- und Pflegebereich diakonischer Einrichtungen zu Wort kommen zu lassen. Diesmal erweitern wir den Fokus auf die Vielfalt der Menschen in den unterschiedlichsten diakonischen Arbeitsfeldern und Berufsgruppen.
Denn alle, Bewohner:innen wie Klient:innen, aber insbesondere Mitarbeitende, die mit besonders verletzlichen Menschen arbeiten – ob als Köchin oder Fahrer in der Behindertenhilfe, als Anleiterin in der Werkstatt, als Pförtner im Hospiz, als Sozialarbeiterin in der Schwangerenkonfliktberatung oder als Reinigungskraft in der Altenhilfe: Alle tragen wir eine besondere Verantwortung.
Diese besondere Verantwortung für die sich anvertrauenden Schwachen gehört zur besonderen Würde eines sozialen Berufs. Und „sozial“ kann eben nicht jede:r – wie es eine diakonische Kampagne einmal auf den Punkt gebracht hat.
Uns und die anderen
„Danke! Ihr Geimpften.“ Wir stellen mit dieser Kampagne den aufrichtig empfundenen Dank an alle Geimpften in den Mittelpunkt. Denn sie alle tragen dazu bei, dass wir aus der Pandemie endlich herauskommen. Und ich hoffe, dass auch möglichst viele noch Unentschlossene oder Skeptische durch diese Beispiele ermutigt werden. Impfen schützt – uns und die anderen! Ob wir das glauben oder nicht.