Nur das, was ankommt, ist auch kommuniziert. Diese einfache Tatsache wird im Streit über die allgemeine Impfpflicht gerne übersehen. Denn wären die noch immer Unentschlossenen oder Skeptischen mit guten Argumenten erreicht und überzeugt worden, hätten wir die Debatte nicht. Dabei geht es nicht nur um den Schutz möglichst vieler Menschen vor dem Virus, sondern auch um die demokratische Kultur. Schließlich müssen in der liberalen Gesellschaft die Regierenden und ihre parlamentarischen Mehrheiten die Bürgerinnen und Bürger immer wieder neu überzeugen – sie haben die demokratische Pflicht, ihr Tun zu erklären, und sie dürfen nicht einfach ihren Willen durchsetzen. In der Impfdebatte ist dies allerdings nur zum Teil gelungen: 14 Prozent der erwachsenen Menschen in Deutschland wollen sich weiterhin nicht impfen lassen oder sind unentschlossen. Was ist hier schiefgelaufen?
„Die Einführung einer Impfpflicht wäre ein denkwürdiges politisches Scheitern“, schrieb der Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje kürzlich im Berliner „Tagesspiegel“. Die klaffende Impflücke sei nicht nur der Graben der Endemie, sondern auch der Vertrauensgraben zwischen der Politik und einem Teil der Gesellschaft. An diesem Befund ist viel Wahres. Allerdings zeigen Umfragen auch, dass nicht alle Ungeimpften beinharte Impfgegner sind. Viele der Unentschlossenen und Unsicheren wurden durch die bisherigen Impfkampagnen wahrscheinlich gar nicht erreicht. Dies geschieht, wenn Politik – wie in den vielen Wahlkampagnen gelernt – vor allem die so genannte Mitte anspricht, also die eher gut gestellten, gut gebildeten und gut vernetzten Menschen. Als Folge bleiben diejenigen außen vor, die auch sonst gerne von Politik und Medien übersehen werden: Die Menschen im Land, die vielleicht wegen ihrer kurzen Bildungsbiografie, fehlender Sprachkenntnisse oder anderer Barrieren eine ganz andere Kommunikation benötigen.
Helfen könnte hier zum Beispiel eine direkte Ansprache durch Vertrauenspersonen in ihrem Lebensumfeld: Sei es im Betrieb, im Supermarkt, in der Moschee, der Kita oder vielleicht im Sportverein oder in der Kneipe. Hillje nennt diese Multiplikatoren „Mikro-Influenzer“. Diese kann man finden und trainieren, für lokale Impfwerbung in ihrem Quartier, in ihrem Wohnblock, für das echte Gespräch zwischen Tür und Angel mit der Kollegin, die müde von der Putzschicht kommt und keine Zeit und keinen Nerv hat für Twitter, Facebook und Co. Und die auch keine Zeitungsinterviews von Politikern liest und um 20.00 Uhr auch nicht die Tagesschau guckt, sondern dafür sorgt, dass ihre drei Kinder endlich ins Bett kommen.
Leider lassen sich Beispiele einer solchen Mikro-Kommunikation, die wirklich bei allen Menschen ankommt, nur selten finden. Umso erfolgreicher (und fataler) wirken mancherorts selbsternannte Gesundheitsapostel, die mit dem Schüren von Ängsten und als scheinbare `Kümmerer` genau diese Strategien verfolgen. Gerade dort, wo die Faktenverdreher mit emotionalisierenden Floskeln wie „Corona-Diktatur“ auf Menschenfang gehen, braucht es positive Gegen-Erzählungen: Wo waren die auf Gemeinsinn-Erlebnisse setzenden „Spaziergänge“ der Impfbefürworter? Wo die Impf-Kampagne, die nicht nur mit trockenen Statistiken und Pony- und Corgi-Abständen aufklärt, sondern die auch Spaß macht?
Wie es besser gemacht wird, hat die ausgezeichnete Aids-Kampagne der 1980er-Jahre gezeigt. „Helga, was kosten die Kondome?“ Sicher, der Humor in den TV-Spots und auf den Plakaten war manchmal platt – aber die Botschaft blieb bei vielen hängen: Schütz Dich! Ziel war es, schnell und nachhaltig einen Lernprozess in der Bevölkerung zu organisieren, um das bis heute nicht durch eine Impfung ausrottbare HI-Virus einzudämmen. Heruntergebrochen wurde die Botschaft dann auf die konkreten Lebenswelten der besonders gefährdeten Gruppen, zu Anfang vor allem der Schwulenszene und der Drogennutzer – aber eben auf Augenhöhe und nie moralisierend. Auch heute noch gibt es in praktisch allen größeren Kommunen eine Aids-Hilfe, die berät, informiert, begleitet und ausbildet – so geht lokale Kampagne.
Nun geht es auf den letzten Metern zu einer ausreichend hohen Impfquote wohl nicht ohne eine zeitlich begrenzte Impfpflicht, um die Corona-Pandemie zu besiegen. Ich habe mich dafür ausgesprochen, denn das hohe Gut der persönlichen Freiheit jedes und jeder Einzelnen findet in einer solidarischen Gesellschaft seine Grenzen, wenn es um den Schutz der Schwächsten geht: Alte, Erkrankte, Arme. Ja, die Bürger haben Rechte gegenüber Staat und Gemeinschaft, auf deren Einhaltung sie pochen dürfen und sogar müssen (auch das ist eine Pflicht). Aber der Staat und damit die Gemeinschaft dürfen den Einzelnen auch Pflichten auferlegen und ihre Freiheit vorrübergehend eingrenzen, um die ( Freiheits- und Teilhabe-) Rechte aller zu bewahren, gerade der Verletzlichsten unter uns. Noch besser wäre es, wenn wir nicht so viel über Rechte und Pflichten sprechen müssten, sondern mehr über Gemeinsinn und Solidarität reden würden – und darüber, wie wir einander ermutigen und stark machen im Kampf gegen Corona. Dazu gehört nach meiner Überzeugung die Impfung, für die es sich zu werben lohnt – aber eben bei allen Menschen.