Verbitterung, Verzweiflung, Resignation oder Wut: Das Gefühl von immer mehr Menschen, im System der Demokratie nicht mehr vorzukommen, wirkt wie eine tickende Bombe im Fundament unserer Gesellschaft. Wenn zu viele Menschen glauben, dass sich die Versprechen der sozialen Marktwirtschaft nur noch für die Smarten und Reichen auszahlen, bedroht das nicht nur den sozialen Zusammenhalt, sondern auch die demokratischen Werte einer Gesellschaft.
Die bestürzend niedrige Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen (55,5 Prozent!) oder im schönen Nachbarland Frankreich alarmieren. Die Gelbwesten-Bewegung dort, die erschreckend guten Ergebnisse für Marine Le Pen, aber auch die tiefen sozialen Verwerfungen in Großbritannien werden zu schnell vergessen. Sie machen mehr als deutlich, dass nicht nur Extremismus und Populismus gedeihen, wo soziale Verwerfungen nicht verhindert werden.
Wider die unsoziale Inflation
Viel zu viele verabschieden sich still und leise aus der Demokratie, Und die braucht aktive Bürgerinnen und Bürger wie ein Vogel Flügel zum Fliegen. Darum muss die Politik angesichts einer unsozialen Inflation und dramatisch steigender Energiepreise bei nach wie vor hohem Mietniveau klare Signale setzen und zusätzliche Maßnahmen beschließen, um die Einkommensschwächsten im Land tatsächlich zu entlasten.
Diakonie Deutschland hat in dieser Woche gemeinsam mit dem Beratungsunternehmen DIW Econ sowie dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschungf (DIW) in Berlin entsprechend durchgerechnete Vorschläge vorgestellt. Im Interesse der 20 Prozent einkommensschwächsten Haushalte und zum Schutz der Demokratie müssen die dramatischen Folgen der aktuellen Teuerung schnell, zielgenau und wirksam bekämpft werden. Es geht um die etwa acht Millionen Menschen in unserem Land, die schon gestern über keine Rücklagen mehr verfügen konnten.
Deren Situation ist bereits jetzt bedrohlich: Ein Kilo Weizenmehl kostet rund 40 Prozent mehr als vor einem Jahr, Nudeln sind um rund ein Drittel teurer geworden, ebenso Rinder- und Schweinehackfleisch – nicht alle Welt isst vegetarisch. Butter hat sich um gut 40 Prozent verteuert und Speiseöl sogar um mehr als 60 Prozent! Und dann kommen noch die Preissteigerungen für Strom, Erdgas und Benzin dazu: Im Juni kostete Energie dem Statistischen Bundesamtes zufolge 38 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Wer von diesen Menschen soll das wie bezahlen?
Bedrohliches Szenario
Die Prognosen der Fachleute sehen keine schnelle Besserung der ökonomischen Rahmenbedingungen. Wir sprechen über eine Entwicklung, die uns höchstwahrscheinlich in den nächsten zwei Jahren weiterhin herausfordern wird. Ein mehr als bedrohliches Szenario.
Allerdings eben nicht so sehr für die Personen, die opulente Familienfeste auf Sylt feiern können, sondern vor allem und besonders für die Millionen Menschen in Deutschland, die — wie es im Behördendeutsch heißt — existenzsichernde Leistungen beziehen: also Hartz IV, Sozialgeld oder Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbslosigkeit. Und das sind nur die Einkommensärmsten im Land.
Dazu kommen die vielen Alleinlebenden, Rentner:innen oder Familien, deren Einkommen nur knapp über der Schwelle für Unterstützung liegen. Oder die, die sich schämen oder zu stolz sind, um Hilfe zu erbitten, obwohl sie einen Anspruch hätten – wie so viele arme alte Menschen. Hundert Euro können einen Unterschied machen und sehr viel Geld sein. Das scheinen zu viele vergessen zu haben.
Weniger essen oder frieren?
Ein Sozialstaat, der sein Teilhabeversprechen ernst nimmt, muss in einer Krise zuerst die relativ armen Menschen in den Blick nehmen. Sie brauchen Solidarität und einen „Schutzschirm“ gegen die galoppierende Inflation, die ihnen buchstäblich die Butter vom Brot nimmt. Wenn der Staat und die Zivilgesellschaft hier nicht wirksam helfen, werden im Herbst viele in unserem Land vor einer bitteren Wahl stehen: Entweder weniger essen oder frieren.
In unseren Schuldnerberatungsstellen, der Sozialberatung, in der Obdachlosenarbeit – überall treffen unsere Leute in diesen Tagen auf Menschen, die wegen der rasanten Preissteigerungen verzweifelt sind.
Diakonie Deutschland hat als soziale Arbeit der Kirche die Interessen dieser Menschen zu vertreten: in der Öffentlichkeit und in der Politik. Deshalb haben wir das Beratungsunternehmen DIW Econ beauftragt, die „Belastung einkommensschwacher Haushalte durch die steigende Inflation“ detailliert auszurechnen.
Das Ergebnis habe ich am Mittwoch zusammen mit Maximilian Priem vom DIW Econ, sowie dem Präsidenten des DIW, Marcel Fratzscher, der Hauptstadtpresse vorgestellt.
In Kürze: Die Forscher haben nicht nur untersucht, wie stark die Preise gestiegen sind, sondern auch wie sich diese Preissteigerungen und die grundsätzlich zu begrüßenden Hilfspakete der Bundesregierung entlang der Einkommensunterschiede aktuell auswirken.
Dabei ist ebenfalls zu berücksichtigen, welche Konsummuster Menschen mit sehr geringem, mittleren und hohen Einkommen haben. So wird, wissenschaftlich gesehen, ein Schuh draus: Wohlhabende geben ihr Geld für andere Dinge aus als Einkommensarme. Wer jeden Euro umdrehen muss, kann weder in teure Urlaube fahren, noch energieeffiziente Kühlschränke oder ein neues Elektrofahrrad oder –auto kaufen.
Eindeutige Ergebnisse
Das Ergebnis der Studie ist eindeutig: Die einkommensschwächsten 20 Prozent der Bevölkerung geben nahezu zwei Drittel (62,1 Prozent) ihres Gesamtkonsums für Nahrungsmittel, Wohnen und Haushaltsenergie aus – und das sind drei der Hauptpreistreiber der Inflation.
Bei den obersten 20 Prozent machen diese Ausgaben nur 44,1 Prozent des Einkommens aus. Und: Die Einkommensreichsten können im Unterschied zu den Einkommensärmsten die unsozialen Folgen der Inflation über Änderungen ihres Konsumverhaltens oder über Ersparnisse abfedern.
Wer dagegen seine Grundbedarfe decken muss und überhaupt nichts auf der hohen Kante hat, kann das eben gerade nicht. (Ein sozialpolitisches Problem besonders in unserem Land, in dem gut ein Drittel der Bevölkerung weder über Vermögen noch über Wohneigentum verfügt.)
Schaut man noch genauer hin, stellt man fest: Die Inflationsbelastung der einkommensschwächsten zehn Prozent der Haushalte ist fast fünfmal so hoch wie die der einkommensstärksten: Die Ärmsten werden also deutlich härter getroffen.
Nachsteuern nötig
In dem Gutachten haben die Forscher:innen von DIW Econ auch untersucht, ob die beiden bisherigen Entlastungspakete der Bundesregierung ihrem Namen gerecht werden. Hier lautet das Ergebnis: Ja, die Maßnahmen der Bundesregierung wirken. Aber: Die Entlastung reicht gerade in den unteren Einkommensgruppen bei weitem nicht aus.
Was auch daran liegt, dass diese Maßnahmen im „Gießkannenprinzip“ ausgeschüttet wurden und zu wenig zielgerichtet sind. Wie etwa der Tankrabatt, der nicht nur eine Verteilung von unten nach oben war (und ökologisch grob unsinnig), sondern auch weitestgehend wirkungslos verpufft ist.
Die Bundesregierung sollte nicht nur auf die Wirkung ihrer Pakete warten, sondern kritisch evaluieren und schnellstens nachsteuern. Drei Milliarden Euro hat der Tankrabatt gekostet, damit wäre bereits mehr als die Hälfte unseres Vorschlages finanziert. Nach den Berechnungen des DIW Econ würde er 5,4 Milliarden Euro kosten. Die politischen, ökonomischen und sozialen Folgekosten des Abwartens werden uns alle sehr viel teurer zu stehen kommen.
6 Monate, 100 Euro
Wir schlagen für einkommensarme Menschen einen pragmatischen Notlagenmechanismus vor: Im Falle einer sozialen Notlage von nationaler Tragweite, die der Bundestag mit einfacher Mehrheit feststellen könnte, soll ein Krisenmechanismus in Gang gesetzt werden, der über sechs Monate einen monatlichen Aufschlag auf die Sozialtransfers vorsieht. Dieser müsste – auch das ist durchgerechnet – derzeit etwa hundert Euro betragen.
Erhalten sollen ihn Bezieher:innen von Wohngeld, Kinderzuschlag, Grundsicherung für Arbeitssuchende und Sozialgeld sowie von Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsunfähigkeit.
Dass unser Vorschlag tatsächlich eine echte Entlastung bringen würde, auch das hat DIW Econ berechnet: Ein solcher Notlagenmechanismus wäre zielgenau, wirkungsvoll und verlässlich und bezahlbar.
Eine solche gezielte Entlastung der Einkommensärmsten für sechs Monate wäre ein Anfang und ein nicht zu überschätzendes politisches Zeichen von gesellschaftlicher Solidarität!
Und die gewonnene Zeit könnte die Bundesregierung nutzen, um die Regelsätze dann endlich bedarfsgerecht zu erhöhen und an die Inflation anzupassen, was erfahrungsgemäß ein längerer und komplizierterer politischer Prozess ist.
Die Zeit drängt
Darauf, dass dieses dicke Brett gebohrt ist, können zu viele derzeit nicht mehr warten. Sie stehen jetzt vor den Supermarktegalen und suchen nach den Sonderangeboten, die sie sich noch leisten können. Und sie blicken mit Furcht auf den kommenden Winter. Die Menschen mit dieser Furcht alleine zu lassen, wäre das größte Versagen.
Schreiben Sie mir gerne in die Kommentare, wie Sie durch diese schwere Zeit kommen und was Sie von unserem Vorschlag halten.