Dass die Freiwillige Feuerwehr ein attraktiver Kooperationspartner der Diakonie beim Kampf gegen Einsamkeit sein kann, hatte ich Montag früh noch nicht auf dem Schirm. Nach vier Tagen Sommerreise weiß ich es besser. Und ich bin noch mehr davon überzeugt, dass ungewohnte Allianzen das Mittel der Wahl zu einem lebenswerten Miteinander sind.
So vielen verschiedenen Menschen bin ich in den vergangenen Tagen begegnet, in so unterschiedlichen lebensweltlichen und diakonischen Kontexten. So viele Gespräche habe ich geführt, in so viele Atmosphären hinein gespürt. Einsamkeit hat viele Gesichter: Ob wohnungslose Frauen, ob Kinder und Jugendliche, alte Menschen, Geflüchtete oder Führungskräfte. In fast jeder sozialen Situation leiden Menschen unter unfreiwilligem Alleinsein, und jede individuelle Situation erfordert andere Antworten.
Einsamkeit und Gemeinsinn
Es gilt genau hinzusehen: Inwiefern ist Einsamkeit für Menschen in ihrer konkreten Lage ein Problem? Und was kann die Gesellschaft, was können wir in der Diakonie, dazu beitragen, dass ihr Problem kleiner wird? „Der Einsamkeit auf der Spur“ war darum die diesjährige Überschrift über meiner Sommerreise.
Ungewollte Einsamkeit ist stets ein sehr persönliches und doch auch ein gesellschaftliches Problem und stellt auf sehr schmerzhafte Weise die Frage nach der Zugehörigkeit. In unserer älter, vielfältiger und digitaler werdenden Gesellschaft ist Einsamkeit nicht erst seit der Pandemie kein Nischenproblem mehr.
Im Gespräch im Kinder-, Jugend- und Familientreff in Parchim erzählt Bärbel Behrend, die kommissarische Leitung dieses beeindruckenden lokalen Kompetenznetzwerkes der Kinder- und Jugendhilfe, davon, wie viele Kinder und Jugendliche tagtäglich beraten werden oder einfach in die Muckibude kommen: viel zu früh mussten sie sich daran gewöhnen, nicht gesehen, nicht wahrgenommen zu werden.
Kluge Konzepte
Wir brauchen kluge, passgenaue Konzepte, die am konkreten Ort mit dazu beitragen, unfreiwillige Einsamkeit zu überwinden. Es geht darum, Ursachen zu bekämpfen und Strukturen zu schaffen, die es einfacher machen, einander überhaupt zu begegnen. Gemeinsinn braucht Begegnung und verlässliche und einladende Rahmenbedingungen.
Ich bin überzeugt: Diakonie und Kirche können viel dazu beitragen, um Menschen aus der Isolation zu holen oder – noch besser – sie gar nicht erst hineinrutschen zu lassen. Das habe ich in der vergangenen Woche in Bremen, Hamburg, Schwerin und Parchim erleben können. Besonders gut funktioniert das in Settings mit ungewohnten Allianzen und pfiffigen Ideen.
Auch in Bremen: Das EU-Projekt „From Isolation to Inclusion“ beispielsweise. Dieses ungewöhnliche Partnerschaftsnetzwerk in der Europäischen Nordseeregion hat sich das Ziel gesetzt, soziale Dienste zugänglicher für einsame und isoliert lebende Menschen zu machen und also wirksamer. Als einzige Nichtregierungsorganisation ist das Diakonische Werk Bremen an Bord.
Ungewohnte Angebote
Die anderen Partner sind Stadtverwaltungen in Belgien, den Niederlanden, Norwegen und Dänemark, auch die englische Kanalverwaltung ist dabei. Alle eint: Sie wollen Angebote für Menschen schaffen, die bisher von Hilfsangeboten noch nicht erreicht werden oder Kultur- und Freizeitangebote nicht oder nur bedingt nutzen. Neben Menschen mit körperlicher oder seelischen Beeinträchtigung, können das beispielsweise auch pflegende Angehörige sein.
In Bremen hat sich ein Format etabliert, das ursprünglich eine Reaktion auf die coronabedingte Schließung von Museen war: der virtuelle Ausflug. Als Gruppenveranstaltung geplant, kann er soziale Kontakte ermöglichen und fördern, auch wenn man vor seinem Computer sitzt. Auslandsreise inklusive. Demnächst steht ein gemeinsamer Besuch der aktuellen El Greco und Picasso-Ausstellung im Kunstmuseum Basel auf dem Programm – mit daran anschließender Austauschrunde.
Feuerwehr und Diakonie
Im Rahmen dieses EU-Projekts kommen nun auch die Freiwilligen Feuerwehren ins Spiel. Mit ihnen hat das Diakonische Werk Bremen die Veranstaltungsreihe „Wo brennt’s?“ entwickelt. Gemeinsam laden sie zum Open-Air-Kino für Jung und Alt ein und erreichen so die unterschiedlichsten Menschen. Die einen kommen, weil sie den Film gut finden, andere, weil sie Feuerwehrautos mögen und wieder andere einfach aus Neugierde oder weil es anschließend etwas zu essen gibt.
Ungewohnte Netzwerke und Kooperationen mit niedrigschwelligen Angeboten wie diese erreichen auch die Menschen, die nicht schon immer „im Verteiler“ waren. Einsame Menschen finden es schließlich oft schwierig, wieder anzudocken, zu kommunizieren, sich zu verabreden. Leicht zugängliche Angebote können wirksam helfen, aus dem Kommunikationstunnel herauszukommen.
Zum Sprechen bringen
Darüber spreche ich auch mit Fatemeh, Saddullah, Jamshid, Amir und Bilal im Atelier „Jules Art“ von Jule Stegemann-Trede. Die Bremer Künstlerin und ihre Freundin Silke Behrens haben 2015 minderjährige geflüchtete Afghan:innen, die in einer Turnhalte untergebracht waren, mit Farben und Blöcken besucht und Malkurse angeboten. Daraus entstand das Kunst- und Integrationsprojekt „Flug des Stiftes“.
Es half und hilft immer noch dabei, Traumata, Traurigkeit und Alleinsein zu bewältigen und junge Geflüchtete bei der Integration und dem Deutsch lernen zu unterstützen. Sieben Jahre später leben die jungen Leute verteilt über das ganze Bremer Stadtgebiet, aber noch immer treffen sie sich regelmäßig ein- bis zweimal pro Woche im Atelier, um zu malen, zu zeichnen und natürlich zu „schnacken“.
Ihre Bilder sind mehrfach ausgestellt worden, die aktuelle Schau „Licht und Schatten“ wurde Mitte August eröffnet und ist gerade im „Kapitel 8“, dem Infozentrum der Bremischen Evangelischen Kirche, zu sehen. Unbedingt anschauen, wenn Sie die Gelegenheit haben!
Netzwerken im Quartier
Ortswechsel: Auch in Hamburg mache ich wieder die Erfahrung, dass diakonische Träger und Einrichtungen längst einen guten Sinn für ungewöhnliche Allianzen entwickelt haben; und umgekehrt: Für viele Unternehmen sind diakonische Träger und Vereine selbst interessante Partner. Diakonie steht nicht nur für hohe Professionalität, sondern eben auch für ein tragfähiges Netzwerk, an dem bundesweit 700.000 Ehrenamtliche mitknüpfen. Das ist äußerst attraktiv – etwa für Wohnungsbaugenossenschaften.
Ein beeindruckendes Beispiel einer so wirksamen Allianz findet sich beispielsweise in Hamburg-Stellingen: das Quartiersprojekt am Spannskamp. Gemeinsam mit dem Diakonischen Werk Hamburg und der Martha Stiftung hat die Schiffszimmerer-Genossenschaft, die älteste und eine der größten Wohnungsbaugenossenschaft der Metropolregion, dort ihr Konzept „MehrQuartier“ umgesetzt. Es geht um Barrierearmut, ambulante Versorgungsdienste, eine kommunikative und soziale Infrastruktur und freiwilliges Engagement.
„Wir können bauen, verwalten und instandhalten“, sagt mir der Vorstand der Schiffszimmerer Thomas Speeth, verantwortlich für 15.000 Mitglieder und 9.000 Wohnungen. Wenn es aber darum gehe, lebendige Nachbarschaften mit einem ansprechendes Wohnumfeld zu schaffen, wo auch ältere Menschen lange gut und selbstbestimmt leben können, seien eher soziale Dienste und deren Kompetenzen gefragt.
Für Alte, für Alle
Im Spannskamp betreibt die diakonische Martha Stiftung seit 2019 auch eine Wohngemeinschaft für demenziell erkrankte Menschen, eine Mehr-Generationen-Wohngemeinschaft für körperlich eingeschränkte Menschen sowie eine Pflegewohnung auf Zeit. Ein großer Gemeinschaftsraum in einem der Neubauten im Erdgeschoss ist der lebendige Quartierstreff für alle Bewohner:innen des Quartiers, eine Quartierskoordinatorin des Diakonischen Werks ist regelmäßig vor Ort.
Das konkrete Engagement aber kommt von den Bewohnerinnen selber – etwa das sogenannte Erzählcafé. Dort treffen sich Seniorinnen regelmäßig zu Kaffee und Kuchen, lesen Gedichte, diskutieren über Politik und Kultur und sprechen über Privates. Jede kann ein Thema vorschlagen – „nur Krankheiten sind ausgeschieden – über die sprechen wir nicht“, erläutert eine der Damen hochvergnügt. Keine unter ihnen ist in der Pandemie vereinsamt: „Wir haben uns angerufen oder Fenstergespräche und Spaziergänge organisiert.“ Das Netzwerk im Quartier trägt.
Neue Selbstverständlichkeit
Wenn es nach mir ginge, sollten solche ermutigenden Beispiele schnell Schule machen. Zu oft ist es bislang schlicht Zufall oder hängt am Engagement einzelner, ob solche Kooperationspartner sich finden und gemeinsam mit den Menschen in ihren Nachbarschaften Erfahrungen von Gemeinschaft und Zusammenhalt ermöglichen. Das darf sich ändern. Auch durch mehr Augenmerk und Unterstützung seitens der Politik.
Wir brauchen hier sozusagen eine neue strukturelle Selbstverständlichkeit, ein neues Denken, das Zugehörigkeit und Gemeinsinn fördert.
Und es bleibt wichtig, das Tabuthema Einsamkeit noch viel breiter und öfter besprechbar zu machen. Damit wir besser verstehen lernen, dass Einsamkeit immer in konkreten Nachbarschaften erlitten wird, in einer konkreten Umgebung, die besser gestaltet werden kann. Dazu brauchen wir auch mehr Wissen um die Wirksamkeit, verlässliche Daten aus Wissenschaft und Forschung.
Allianzen gegen Vereinsamung
Wir können etwas tun gegen Vereinsamung. Freie Wohlfahrt, Behörden, Politik vor Ort, lokale Unternehmen und eben auch die Freiwilligen Feuerwehren sollten sich viel öfter als Partnerinnen bei der Arbeit für das Gemeinwohl verstehen lernen: Ungewohnte Allianzen ebnen ungewohnte Wege zu neuen Orten der Begegnung. Da geht was! Mit und ohne „Tatü-Tata“.