Vier große weiße Kerzen für die Adventssonntage, 24 kleine rote für die Werktage nach dem 1. Advent und gut 20 Bünde Tannengrün, gewunden um ein Kranzgestell aus Metall, Holz und Draht. Auch in diesem Jahr haben wir den Wichern-Adventskranz wieder in der Lobby des Bundestags aufgestellt. Ein freundlicher Gruß und ein herzliches Dankeschön für die Bundestagsabgeordneten und ihre Mitarbeiter:innen.
Politischer Advent
Jedes Jahr freue ich mich auf diesen nur auf den ersten Blick unpolitischen Termin im politischen Berlin zum Beginn der Adventszeit. Diese kurze Unterbrechung, bevor die erste Kerze entzündet wird, die adventliche Chormusik – in diesem Jahr mit der Jugendkantorei aus Spandau –, die Worte, die wir finden, um das 183 Jahre alte Hoffnungs-Symbol Adventskranz in der Gegenwart ankommen zu lassen.
Selbst in digitalisierten Zeiten entfaltet Kerzenlicht in der täglich dunkler werdenden Jahreszeit seinen Zauber. Nicht anders als 1839, als einer der Gründer der Diakonie, Johann Hinrich Wichern, zur Freude der vielen Straßenkinder, die in seinem Rettungshaus Aufnahme gefunden hatten, den Prototyp des Adventskranzes aus einem ausrangierten Wagenrad improvisiert.
Wicherns Kranz
Wicherns „Kranz“ damals ist so etwas wie Kalender und Kronleuchter in einem: Er zählt, Kerze für Kerze, die langen Tage bis Weihnachten. Für die ehemaligen Straßenkinder, mit denen Wichern im Rauhen Haus in Hamburg lebt, und denen er und sein Team versuchen, Wege in eine bessere Zukunft zu ebnen. Der Wagenrad-Kranz macht erlebbar: Es wird täglich ein wenig heller, ein wenig wärmer auch in ihrem Alltag und das, obwohl die grauen Wintertage immer kürzer werden.
Ich mag diese Zeit, trotz und mit Glühweinromantik und Päckchenhektik, mit und trotz Konsumterror und alkoholschwangeren Weihnachtsfeiern. Ich habe nichts gegen Gemütlichkeit, Vorweihnachtstraditionen oder Wohnzimmer. Aber die Geschichte des Adventskranzes ist nicht nur gemütlich:
In ihr spielen Berührbarkeit und politischer Instinkt, Gottvertrauen und Menschenliebe, solidarisches Handeln, eine gesunde Skepsis gegen das Establishment in Kirche und Gesellschaft und eben – nicht zuletzt – Improvisationstalent eine Rolle. Im Grunde ist dieser Kranz ein Symbol der Wachheit und des Mutes zum neuen Denken.
Neues Denken
Jedenfalls entspringt er demselben (Zeit)Geist, der im Epochenbruch der Industrialisierung und dem endgültigen Ende der Ständegesellschaft erkennt, dass es soziale Herausforderungen gibt, in denen fromme Mildtätigkeit nicht mehr ausreicht, sondern strukturelle Veränderungen erforderlich sind.
Nächstenliebe muss sich vernetzen, um wirksam werden zu können, das erkannten Wichern und seine Weggefährt:innen. Und im sanften Licht der Kerzen entsteht – #ausLiebe – so auch die Rettungshausbewegung, eine Vorläuferin der modernen Diakonie. Von diesem Aufbruchs-Geist erzählt der Adventskranz, und das passt ausgezeichnet in die Lobby des Bundestages.
Botschafter der Hoffnung
Dazu kommt: Der Adventskranz kennt kein Parteibuch. Er will ein leiser, aber verlässlicher Botschafter der Hoffnung sein. Und der Kühnheit. Seine Lichter erinnern an die parteiübergreifende Kraft bedingungsloser Menschenfreundlichkeit, auf die wir gerade in unserer Gesellschaft der vielen Meinungen, Weltanschauungen und ihren zahlreichen Konflikten nicht verzichten können.
Was hält unsere freie Gesellschaft der Vielfältigen zusammen? Diese Frage wird drängender. Und der Druck, unter dem wir Demokratie zu gestalten haben, wächst auch in dieser Vorweihnachtszeit weiter: Kriegsfolgen, Inflation, Energiekrise, die weiter schwelende Pandemie machen leider keine Pause. Von den Folgen des weltweiten Klimawandels und der zwingend notwendigen sozial-ökologische Transformation gar nicht zu reden.
Leuchtendes Trotzdem
Die Welt, in der wir 2022 die Lichter des Adventskranzes anzünden, jeden Tag eines mehr, ist kein gemütlicher Ort. Wir können jedes leuchtende „Trotzdem“ gut brauchen – gegen die Kälte unserer Zeit und die Dunkelheiten aller Art.
„Gott wird Mensch, dir Mensch zu Gute„, werden wir zu Weihnachten singen. Und es ist alle Jahre wieder ein Lehrstück, wie Gott es gefallen hat, mitten in dieser ungemütlichen Welt Mensch unter Menschen zu werden: Nicht in einem schönen Haus am See, sondern in einem zugigen Stall in einem verlassenen Winkel der Weltgeschichte.
Nicht unter den Glamourösen, Reichen, Mächtigen im Rampenlicht: Die ersten Zeugen der beginnenden Transformation der Welt sind vielmehr arme Hirten mit ihren Schafen. Überhaupt nichts Großes, sondern ein schutzloser Winzling, ein Säugling, improvisiert gebettet in einer Futterkrippe – mein Herr und mein Gott: „Steht auch mir zur Seite, still und unerkannt.“
Wunder vom Rand
Daran erinnern uns die still brennenden Kerzen an diesem grünen Hoffnungskranz. Misstraut den laut inszenierten öffentlichen Wundern, sagt er. Die wirklichen Wunder geschehen –“still und unerkannt“ – an und von den Rändern der Gesellschaft her.
Am Mittwoch haben wir den Wichern-Kranz an unser Parlament übergeben – stellvertretend an die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt. Jetzt steht er wieder einige Wochen gut sichtbar in der Lobby des Reichstagsgebäudes und sagt diese wunderliche Umwertung aller Werte an: Weihnachten. Wunder geschehen vom Rand her.