Gegen sexualisierte Gewalt

“Jeder Tag zählt.” Dieser kurze Satz von Julia Sander, Mitglied des Betroffenenbeirates der Diözese Freiburg, geht mir nach. Im Deutschlandfunk hat sie in dieser Woche aus ihrem Leben erzählt: Von Gewalt in ihrer Kindheit, vom Missbrauch durch einen allseits beliebten, sehr nahbaren Priester, dem sie vertraute, von Menschen im Umfeld, die “es” nicht wissen wollten, von ihrem langen Überlebensweg, vom anhaltenden zähen Kampf mit den Institutionen der Kirche. Davon wie wichtig es für sie war, als Opfer anerkannt zu werden, und wie zermürbend es für Betroffene ist, darauf warten zu müssen, dass endlich die Wahrheit gesagt wird.

Symbolbild Sexualisierie Gewalt
Aktiv gegen sexualisierte Gewalt. Weil jeder Tag zählt. Bild: pixabay

Mühsame Prozesse

Jeder Tag zählt. Auch in der Evangelischen Kirche und der Diakonie sind die Prozesse der Aufarbeitung und Anerkennung des Leides der Betroffenen oft mühsam. Viele Diakonischen Einrichtungen haben ihre individuelle Geschichte und Vorkommnisse von Missbrauch und Gewalt unter Beteiligung von Betroffenen aufgearbeitet und sind Wege der Anerkennung gegangen.

2018 hat die EKD-Synode den 11 Punkte- Handlungsplan gegen sexualisierte Gewalt beschlossen, der gemeinsam von Kirche und Diakonie umgesetzt wird. Nach intensiven Prozessen konnte im Herbst 2020 die Arbeiten an der unabhängigen Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Evangelischer Kirche und Diakonie beginnen.

Die zweite Version des Bundesrahmenhandbuchs zum Diakonie Siegel Schutzkonzepte zu sexualisierte Gewalt liegt vor und wird intensiv von Trägern und Einrichtungen nachgefragt. Und am 1. Januar hat bei Diakonie Deutschland die Fachstelle “Aktiv gegen sexualisierte Gewalt” ihre Arbeit aufgenommen.

Strukturen gegen Gewalt

Sexualisierte Gewalt in der Diakonie hat viele mögliche Orte. Sie kann in Einrichtungen der Kinder-, Jugend- oder Altenhilfe geschehen, in Unterkünften für Geflüchtete oder in Häusern für Menschen mit Behinderungen. Überall, wo es im Miteinander zu einer Verschränkung von Abhängigkeits- und Vertrauensverhältnissen kommt, kann es zu solch furchtbaren Grenzverletzungen kommen wie Julia Sander sie erlebt hat – mit lebenslänglichen Folgen für die Betroffenen. Jeder Tag zählt.

Aktives Handeln gegen sexualisierte Gewalt braucht darum auch in der Diakonie Strukturen. Die neue Fachstelle ist mehr als eine Veränderung im Organigramm. Sie wird die bisherigen Aktivitäten zur Prävention, Intervention, Aufarbeitung und Hilfe von sexualisierter Gewalt bündeln und intensivieren. Sie ist für alle Fragen zum Thema sexuelle Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt im kirchlich-diakonischen Raum zuständig und arbeitet eng mit der Fachstelle der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) zusammen.

Hohe Priorität

Sie ist zugleich eine Willensbekundung, die sichtbarer machen soll und kann, was im Raum der Diakonie in diesen Zusammenhängen bereits geschieht und weiterhin geschehen muss. Auch dass die neue Stabsstelle im Vorstandsbereich Sozialpolitik direkt meiner Vorstandskollegin Maria Loheide zugeordnet ist, sendet ein Signal an alle Mitglieder in unserem Verband: Unser Handeln gegen sexualisierte Gewalt hat hohe Priorität.

Ziel ist, dieses Engagement als Querschnittsthema in all unseren Arbeitsfeldern und in den Einrichtungen und Diensten der Diakonie konzeptionell fest zu verankern. Und das gelingt erfahrungsgemäß besser, wenn Strukturen geschaffen werden und eine sichtbare Ansprechstelle besteht, die über finanzielle Mittel und Personal verfügen.

Der Bundesverband hat zwei hochqualifizierte Kolleginnen gewonnen. Deren Agenda ist mehr als umfangreich: Sie werden daran arbeiten, die bisherigen Aktivitäten im Bereich Aufarbeitung, Prävention und Intervention von sexualisierter Gewalt besser miteinander zu vernetzen. Sie beraten und begleiten die Mitglieder der Diakonie Deutschland bei ihrer Aufarbeitungs- und Präventionsarbeit, beziehen Betroffene mit ihren Anliegen ein und setzen sich politisch für die Anerkennung ihres Leids ein.

Netzwerk des Schutzes

Mit der Fachstelle der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bildet unsere Fachstelle eine Art Tandem. Gemeinsam wird es darum gehen, die Gewaltschutzrichtlinie und den 11-Punkte-Handlungsplan umzusetzen. Dazu kommen Begleitung und Weiterentwicklung der Unabhängigen Ansprechstellen für Betroffene, und die Förderung der wissenschaftlichen Aufarbeitungsstudien in diesem Bereich. Und natürlich die Zusammenarbeit mit externen Bündnispartner:innen, wie der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.

Marlene Kowalski, Leiterin der Stabstelle, ist zuversichtlich: “Wir freuen uns sehr, im Rahmen der neuen Fachstelle an die bisherigen Aktivitäten der Diakonie Deutschland anzuknüpfen und diese weiterzuführen. Im Bundesverband und in den Landes- und Fachverbänden gibt es bereits viele engagierte Kolleg:innen, die sich für dieses wichtige Thema einsetzen. Diese wollen wir noch intensiver miteinander vernetzen, um dazu beizutragen, dass in diakonischen Einrichtungen bundesweit dem Schutz der anvertrauten Personen höchste Priorität gegeben wird. Zudem wollen wir Aufarbeitungsbemühungen voranbringen und unterstützen und Betroffene hierbei intensiv einbeziehen.”

#Aus Liebe

2023 begehen wir als Diakonie in Deutschland auch unser 175-jähriges Bestehen: Erinnernd, die dunklen Seiten nicht ausblendend, und nach vorne blickend: Wie wollen wir Diakonie im 21. Jahrhundert sein? #AusLiebe ist das Motto der Jubiläumskampagne. Sie will anschaulich machen, dass Liebe unter dem Dach der Diakonie auf sehr unterschiedliche Weise Gestalt annehmen kann.

Aktiv gegen sexualisierte Gewalt vorzugehen, ist für mich eine wichtige Gestalt dieser Liebe. Ich wünsche den Kolleginnen der neuen Stabsstelle, ich wünsche uns allen, dass ihre Arbeit schon bald Wirkung zeigt. Jeder Tag zählt.

Ein Gedanke zu „Gegen sexualisierte Gewalt“

  1. Seit Dezember 1965 fühle ich mich von der Rücksichtslosigkeit der Sexuallehre der katholischen Kirche betroffen. Ich gehörte damals zu den Theologiestudenten, die vor dem Abschluss des Studiums standen und nicht ins Seminar gehen wollten, weil wir nach dem Bericht des Konzilsperitus Joseph Ratzinger davon ausgehen mussten, dass wir zum Amtszölibat weiterhin trotz der Konzilsbeschlüsse gezwungen wurden. Heuchelei und Missbrauch wurden auf diese Weise gegen besseres Wissen geduldet, ja gefördert. Ich bin seit 1994 aus dieser Kirche wegen des endgültigen Verbotes der Frauenordination ausgetreten. Heute empfinde ich nur noch Wut und Scham über diese schrecklichen Verhältnisse, die inzwischen das Staats-Kirchenverhältnis sehr belasten, ganz zu schweigen von der “Abwicklung” der Wiedergutmachungen für die vielen Opfer.

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