Heute geht es für mich nach Leipzig. Mit dem Zukunftskongress Vision 2048 schließen wir unser Jubiläumsjahr ab: 175 Jahre Diakonie, #ausLiebe. Wobei es uns allerdings im Wortsinn gerade nicht ums „Abschließen“ geht. Im Gegenteil: Es geht ums Aufschließen, darum die Tür in die Zukunft aufzustoßen.
Wir haben uns in diesem Jubiläumsjahr erinnert: an Johann Hinrich Wicherns berühmte, aufrüttelnde Stegreifrede auf dem Wittenberger Kirchentag 1848, an inspirierende Aufbrüche bürgerschaftlichen Engagements, an mutige Pioniere, die sich ohne Verzagtheit den Herausforderungen ihrer Zeit gestellt haben, die über den Tellerrand geschaut und die Zukunft nicht nur einfach düster und linear prognostiziert haben. Inspiriert haben sie sich – etwa beim aufstrebendem Bürgertum – neue zivilgesellschaftliche Partner und Verbündete gesucht. Innovativ haben sie neue Formen und Formate des Hilfehandelns entwickelt. Wir haben uns erinnert an Francke in Halle an der Saale, an die Fliedners in Düsseldorf-Kaiserswerth, die Nathusius in Neinstedt, die Bodelschwinghs in Bethel, Löhe in Neuendettelsau, von der Recke im Rheinland und viele andere.
Erinnerung ist ein Grundmuster christlichen Lebens – und wesentliche Bedingung für die Gestaltung einer lebenswerten und menschenfreundlichen Zukunft. Erinnerungskultur hat eine lange biblische, eine christlich-jüdische Tradition. Individuelles und kollektives Erinnern stiftet Identität und gibt Orientierung. Erinnerungen bestimmen mit, wer wir sind. Sie sind bedeutsam für unser Handeln und unsere Entscheidungen in der Gegenwart. Kirchliches Erinnern ist mehr als das Rezipieren von Vergangenem. Erinnern zielt auf Zukunft.
Diese Denkfigur und Glaubenspraxis gleichermaßen prägt den inhaltlichen Bogen unseres Jubiläumsjahres. Und heute mündet die Erinnerung in das Nachdenken über die Zukunft diakonischer Arbeit. Der Zukunftskongress Vision2048 lädt dazu ein, innovative Ideen und Projekte diakonisch engagierter Menschen und Einrichtungen kennenzulernen, sich auszutauschen, voneinander und miteinander zu lernen. Mut, Ideenreichtum und Pioniergeist gehört seit den Anfängen zur DNA der Diakonie. Viele diakonische Träger, viele haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeitende tragen heute diesen Pioniergeist weiter. Die Herausforderungen unserer Zeit sind beträchtlich, die globalen Krisen komplex und es gibt keine Blaupausen für den Weg in die Zukunft. Wicherns Antwort auf die epochalen Brüche und Veränderungen seiner Zeit vor 175 Jahren war die Gründung eines innovativen „Netzwerks der christlichen Liebestätigkeit“. Welche Kraft steckt heute in der weit verzweigten diakonischen Trägerlandschaft, die über die Jahrzehnte aus diesen ersten Impulsen entstanden ist?
Die Diakonie will die Gesellschaft aktiv mitgestalten, entwickelt neue Lösungen, bringt ihre Ideen zur Produktreife und setzt sie in die Tat um. In Leipzig wollen wir zeigen: Es gibt sie und sie werden dringend gebraucht: Unternehmer*innen, Erfinder*innen, Ermöglicher*innen, die mit Gottvertrauen und #ausLiebe die gesellschaftlichen Herausforderungen mutig angehen – mit und für die Menschen, die vor Ort darauf angewiesen sind.
Oft fehlen der guten Idee die notwendigen finanziellen Ressourcen zu ihrer Realisierung. Angesichts knapper werdender öffentlicher Finanzmittel und aktueller Kürzungsdebatten was sozialstaatliche Leistungen betrifft, sind auch hier Innovation und Risikobereitschaft gefragt. Ich freue mich sehr, dass wir eine Reihe von Stiftungen für den Zukunftskongress gewinnen konnten, die auf der Suche nach unterstützenswerten Projekten sind, die bereit sind, in engagierte Menschen und ihre Ideen Vertrauen zu setzen und der guten Sache mit Fördermitteln zum Durchbruch zu verhelfen. Wir wollen den Sozialstaat nicht aus der Verantwortung entlassen. Wir setzen uns für eine Sozial- und Gesundheitspolitik ein, die sich an den schwächsten Gruppen unserer Gesellschaft orientiert, die Menschen zu ihrem Recht verhilft. Wir sehen aber auch die akute Not und die Sorgen, sehen die Menschen, die Hoffnung und Vertrauen verlieren, die in den aktuellen Transformationsprozessen an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden, die von Armut und Ausgrenzung betroffen sind. Nicht die Hoffnung auf den Staat hält unser Netzwerk zusammen, sondern die Nächstenliebe ist die treibende Kraft diakonischen Handelns. Dass Nächstenliebe sehr konkret zu denken ist und privates Kapital bei der Konkretisierung hilfreich sein kann, ist eine der vielen Erkenntnisse, die aus der Erinnerung an die diakonischen Anfänge zu gewinnen ist. Es sind Lösungen gefragt, die Mut machen. „Die Nacht, in der das Fürchten wohnt, hat auch die Sterne und den Mond“ (Mascha Kaléko). Diese hoffnungsfrohe Erfahrung wollen die leuchtenden Beispiele diakonischer Arbeit ermöglichen. Ich bin sehr gespannt auf die große Bandbreite unterschiedlicher Projekte und auf Diskussion, Austausch und Vernetzung mit rund 250 Teilnehmenden, mit Mutmacher*innen und Hoffnungsstifter*innen.