Zwischen den Zeiten

„Zwischen den Zeiten“. Zeitenwende.

So könnte man diese Tage beschreiben, in denen wir uns gerade befinden, sowohl wenn es nach dem Weltenlauf und wenn es nach dem Lauf des Kirchenjahres geht. Volkstrauertag und Ewigkeitssonntag liegen hinter uns. Das alte Kirchenjahr ist an sein Ende gekommen. Und in zwei Tagen scheint schon etwas Neues auf: Der Beginn des Kirchenjahres mit dem 1. Advent.

Eine Gruppe von Kindern und Erwachsenen steht um einen großen Adventskranz herum.
Zum Abschluss des 175-jährigen Jubiläums der Diakonie überreicht Diakonie-Präsident Ulrich Lilie den traditionellen Wichern-Adventskranz an den Bundestag. Foto: Diakonie/Birte Zellentin

Für die Mitarbeitenden in unserem Hause des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung (EWDE) ist das mit der Eröffnung der neuen Aktion von „Brot für die Welt“, die am 1. Advent in Leipzig stattfindet, immer etwas ganz Besonderes.

Zwischen den Zeiten. Jedes Jahr wieder mag ich dieses besondere Gefühl, das sich bei mir immer wieder regelmäßig zwischen Weihnachten und dem 6. Januar, dem Fest der heiligen Drei Könige einstellt: Ein Gefühl ein wenig  aus der Zeit gefallen zu sein. Es ist ein „Nicht mehr“ und ein „Noch nicht“ zugleich. Es fühlt sich tatsächlich ein bisschen an, wie aus der Zeit gefallen zu sein. Und damit unweigerlich verbunden ist das NACH – DENKEN über das, was zurückliegt, was das vergangene Jahr geprägt hat und das, was vor uns liegt: Unbekanntes Gelände.

Bei der Rückschau auf das vergangene Jahr fallen da zunächst schwierige, schreckliche, ja dystopische Ereignisse ins Auge. In den Langzeitfolgen wohl am Bedeutendsten ist, dass das eigentlich vereinbarte 1,5-Grad-Ziel der Pariser Klimakonferenz wohl in weite Ferne gerückt ist. Die Erwärmung unseres Planeten und mit ihm der Ozeane rückt mit großen Schritten voran.

Und jenseits des jetzt in den zweiten schrecklichen Winter gehenden Angriffskrieges auf die Ukraine hat der 7. Oktober mit dem Zivilisationsbruch der Hamas noch einmal eine neue, schreckliche Zäsur gesetzt. Der fragile „Frieden“ in Israel und Palästina hat sein jähes Ende gefunden. Die Bilder, die uns seither erreichen sind kaum auszuhalten. Und auch in unserem Land hat eine neue Debatte eingesetzt rund um Rassismus und Antisemitismus, die nie aus unserem Land verschwunden sind. Was verbindet uns, wenn wir nicht mehr aneinander gebunden sind? Wenn die Vorstellungen von einem guten Leben immer weiter auseinandergehen?

Im Wochenspruch heißt es: „Lasst Eure Lenden umgürtet sein und Eure Lichter brennen.“ (Lk 12)

Diese Worte stehen für eine spezifische Form von Bereitsein, eine wache Bereitschaft sich auf das Kommende einzulassen. Das zurückliegende Jahr lehrt uns. Das Heil kommt wohl nicht von uns Menschen her. Schon gar nicht von den furchtbaren „Vereindeutigern der Welt“, die immer schon wissen, was richtig und was falsch ist, was schwarz und was weiß. Es kommt erst recht nicht von denen, die nun – wie in Argentinien – mit der Kettensäge Gesellschaften verändern wollen.

Der Glaube, unser christlicher Glaube ist im Kern Hort eines Geheimnisses. Hort des Gottes, der das gründende Geheimnis dieser Welt bleibt. Und ein Geheimnis steht immer auch für Komplexität. In allen Fragen, die ein solch komplexe Welt, wie die unsere betreffen geht es nie um ein schwarz – weiß, ein entweder – oder, sondern vielmehr um ein sowohl – als auch. Und es geht vor allem um die Frage nach unserer Haltung, die wir zu den Herausforderungen unserer Zeit einnehmen wollen. Je volatiler und fragiler unsere Welt wird, um so entscheidender ist diese Frage nach der Haltung, mit der wir den Herausforderungen begegnen wollen.

Eine von der jüdisch – christlichen Überlieferung geprägte Haltung wird immer eine Haltung der Empathie, des Mitgefühls und des Einfühlens, der Barmherzigkeit und der Hoffnung bleiben. Das ist angesichts der fast täglichen Infragestellung durch Unheilsbotschaften nicht wenig – das ist viel. Diese Haltung trägt auch über die Abgründe des Volkstrauertages auf den 1. Advent hin. Wenn die Tage am Kürzesten sind und das Licht am Schwächsten, dann zünden Christenmenschen die erste Kerze an. Die flackert ganz zerbrechlich, fragil am Wichern’schen Adventskranz. Noch kaum sichtbar, kaum wahrnehmbar. Ein Zeichen der Hoffnung.

Gestern haben wir zusammen mit Kindern und Jugendlichen aus dem „Rauhen Haus“ in Hamburg und dem Johannesstift in Berlin einen großen Adventskranz im Bundestag überreicht. Mit vier großen weißen Kerzen für die Adventssonntage. Und den kleinen roten Kerzen für die Tage dazwischen. Und haben – dieses neue, alte Lied des Kirchenjahres gesungen, das erste Lied im Evangelischen Gesangbuch :

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit.“

Ein neues Jerusalem, ein neues Gemeinwesen wird herbeigesungen. Und die Erinnerung an Jesus, den Nazarener, kommt in den Blick, die Erinnerung an seine Menschenfreundlichkeit und Barmherzigkeit:

„Es jammerte ihn.“

Einfühlungsvermögen und Barmherzigkeit. Advent: Gott kommt, wird Mensch unter Menschen. Licht der Welt mitten in der Dunkelheit – damals wie heute. Deshalb werden wir in wenigen Stunden auch in den Wohnungen die erste Kerze entzünden:

Jesus Christus, das Licht der Welt kommt in die Welt und mit ihm  Menschenfreundlichkeit, Barmherzigkeit und Hoffnung.