Glauben Sie noch an Wunder? Gehört die Erfahrung von Wundern, von völlig unerwarteten Ereignissen und Entwicklungen, die sich menschlicher Fähigkeit und menschlichem Ermessen entziehen, zu Ihrem Leben? Und zu Ihrem Glauben?
Erzählungen von Wundern gehören zum Geschichtenbestand der Bibel. Zu den im Wortsinn wunderbaren Erfahrungen, die Menschen nach christlicher und jüdischer Überlieferung mit Gott gemacht haben und mit Gott machen.
Gestern Abend nach Sonnenuntergang haben Jüdinnen und Juden auch hier in Berlin und zusammen mit dem Bundeskanzler die erste Kerze am Chanukka-Leuchter am Brandenburger Tor entzündet. Jeden Abend kommt ein weiteres Licht hinzu, bis alle acht Kerzen auf dem Chanukka-Leuchter brennen. Dieser Brauch hat eine Art Wahlverwandtschaft mit den christlichen Advents- und Weihnachtsbräuchen, verdankt sich aber einem ganz anderen Ursprung.
Das Chanukka-Fest erinnert an die Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem im Jahr 165 v. Chr., nachdem die Freiheitskämpfer um Jehuda Makkabi die griechisch-syrische Besatzungsmacht vertrieben hatten. Als die Juden den zurückeroberten Tempel aufräumten, wollten sie das erloschene ewige Licht erneut entzünden, fanden aber kein geeignetes Öl. Das kleine Fläschchen Lampenöl, das sich schließlich fand, reichte nach menschlichem Ermessen an sich nur für eine Nacht, aber am Ende brannte es acht Tage lang, genauso lange wie nötig, um neues, koscheres Lampenöl zu beschaffen.
Eine wunderbare Geschichte! Ein kleines, fragiles Licht, das gegen alle Erwartungen weiter leuchtet und wieder zum ewigen Licht wird. Mit der Wiedereinweihung des Tempels gewinnen die Juden das Zentrum ihrer Religion zurück. Chanukka erzählt die Geschichte, erzählt das Wunder, von der Bewahrung und Selbstbehauptung der kulturellen und religiösen Identität des jüdischen Volkes durch alle Verfolgung, Schrecken und Wirren der Geschichte hindurch. „Der Herr behütete sein Volk wie seinen Augapfel“, heißt es im 5. Buch Mose.
Der Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor und an vielen anderen öffentlichen Plätzen unseres Landes ist auch ein Wunder. Wer hätte in Deutschland nach dem Zivilisationsbruch der Shoah auch nur hoffen dürfen, dass sich wieder vielfältiges jüdisches Leben in diesem Land entwickeln könnte? Wer hätte sich 1945 vorstellen können, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder eine Heimat finden, dass sie die deutsche Gesellschaft mitgestalten und mit ihrem kulturellen Reichtum zu einem vielfältigen Miteinander beitragen würden? Es ist ein Wunder, dass sich auch der jüdische Wohlfahrtsverband in der Bundesrepublik wiedergegründet hat. Die Diakonie ist froh und dankbar, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) als Mitgestalterin der gemeinnützigen, sozialen Infrastruktur in unserem Land an ihrer Seite zu haben.
Wir sehen uns in der Verantwortung, die Erinnerung an die Shoah wachzuhalten und gerade in diesen dunklen Zeiten dafür zu sorgen, dass Jüdinnen und Juden auch weiterhin auf unseren gesellschaftlichen Grundkonsens des „Nie wieder“ vertrauen können. Jüdinnen und Juden sind – Gott sei dank – Teil unserer offenen, demokratischen Gesellschaft. Wer sie bedroht und angreift, ihre Häuser markiert oder jüdische Gemeinden, Schulen und jüdische Einrichtungen der Wohlfahrtspflege in Angst versetzt, greift die Grundlagen unserer Gesellschaft an und muss mit unserem entschiedenen Widerstand rechnen.
Das Licht am Chanukka-Leuchter erinnert daran, dass Gott seinem Volk die Treue hält. Das Licht am Chanukka-Leuchter erinnert mich daran, dass auch in dunklen Stunden mit Gottes Wundern zu rechnen ist. Unsere Begrenzungen und das, was wir für Realität halten oder von der Realität erkennen und verstehen, ist nie die ganze Wirklichkeit, nicht die ganze Wahrheit. Gottes Wunder stellen Grenzen in Frage, bauen Brücken und führen aus Abgründen heraus.
Abraham Lehrer, der Präsident der ZWST schreibt: „Chanukka erinnert an das Wunder zu Zeiten der Zerstörung des zweiten Tempels, als ein Krug gesalbten Öls statt einem acht Tage lang das ewige Licht unterhalten konnte. So lange dauerte es, neues gesalbtes Öl herzustellen. Wir möchten auch mit dem täglichen Entzünden der Kerzen Licht in die dunklen Teile unserer Welt bringen und erhoffen uns dafür Frieden für alle Menschen auf der Erde. Unter dem Aspekt des 7. Oktobers hat dieser Wunsch eine ganz besondere Bedeutung erfahren. Chag Chanukka Sameach.“
Als Wahlverwandte dieser Hoffnung und dieser Sehnsucht nach Frieden bereiten sich Christinnen und Christen in diesen Tagen auf das Wunder der Weihnacht vor. Gott wird Mensch mitten in dieser von Schrecken, Unheil und Gewalt zerrissenen Welt und begegnet uns in einem wehrlosen, schutzlosen Kind.
Glauben Sie noch an Wunder?
Ich wünsche unseren jüdischen Freundinnen und Freunden ein hoffnungsvolles Chanukka – Fest und Ihnen einen inspirierenden, lichtvollen Advent.