„Diakonische Identität in einer pluraler werdenden Gesellschaft.“ So der Titel eines Symposiums, an dem ich in der vergangenen Woche teilnehmen konnte. Ein Thema so alt wie die unternehmerische Diakonie – und doch in jeder Generation neu zu verhandeln.
Die Fragen sind immer ähnlich: Wer passt zu uns und wer nicht? Was soll sich in, durch unserer Arbeit vermitteln? Was zeichnet den Diakonie-Spirit, den diakonischen Geist aus, der uns von anderen Wohlfahrtsverbänden, sozialen Unternehmungen unterscheidet? Gibt es diesen Geist überhaupt – außerhalb von Gottesdienst, Seelsorge und Bildung? Spürt man ihn auf Station, in der Beratung, im Umgang miteinander? Und wenn man ihn spürt – was spürt man überhaupt? – So habe ich in meiner Begrüßung formuliert.
Diakonisches Gestalten
Gastgeber waren der Verband der diakonischen Dienstgeber in Deutschland, das Institut für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel sowie Diakonie Deutschland. Gekommen sind rund 80 diakonische Gestalter – viele Männer, wenige Frauen – aus fast allen Regionen Deutschlands.
Von großen Unternehmen und Trägern, aus Verbänden und Einrichtungen zwischen Lausitz und Hessen, von Südbaden bis Bremerhaven. Auch Gäste aus der Diakonie Österreich, wo die Evangelischen 3,4 Prozent der Bevölkerung ausmachen, waren da. Zwei Tage haben wir gemeinsam darüber nachgedacht, was es heute bedeutet Diakonie zu sein. Die Perspektivenvielfalt war eindrucksvoll. Die Verunsicherung, die das Thema mit sich bringt, spürbar. Aber auch der Wille, unter den Bedingungen einer postmigrantischgen Gesellschaft, Diakonie mit Anderen zu gestalten.
Im Werden
Diakonie ist immer im Werden. Doch auch wenn das seit rund 175 Jahren alltäglich ist, wird es nicht einfacher. Sicher verunsichert derzeit auch, wie schnell sich das Land, ja, die Welt, in der wir leben, verändert. Deutschland wird mit großer Geschwindigkeit ethnisch, kulturell und religiös vielfältiger, während sich die Anzahl der Kirchenmitglieder verringert.
Außerdem wird unsere Gesellschaft älter, sozial ungleicher und digitaler – was noch einmal immense soziale Folgen nach sich ziehen wird. Die fetten Jahre sind vorbei, sagen manche, obwohl Deutschland immer noch eines der reichsten Länder auf unserem Planeten ist. Es gibt große regionale Unterschiede: In Brandenburg verändert sich die Gesellschaft anders als im Ruhrgebiet, auf dem abgelegenen Dorf im östlichen Westfalen als in der Metropolregion Frankfurt.
Container Diakonie
Verunsicherung als Reaktionsfarbe ist also durchaus angemessen. Aber Bange machen gilt nicht. So ist eben unsere Gegenwart und hier sind wir in der Diakonie (und in der Kirche) aufgefordert, neue (Mitwirkungs-) Formen von Diakonie (und Kirche) zu erfinden.
Wichtig ist mir: Auch dieses „Wir“ ist keineswegs homogen. Diakonie ist ein Container-Wort. „Wir“ sind sehr unterschiedlich: Im mehrheitlich konfessionslosen Sachsen ist man anders Diakonie als im katholischen Südbaden, in Hamburg anders als in Hessen. Ein Träger wie Bethel, der in acht Bundesländern und auf 280 Standorten Diakonie gestaltet, hat andere Schwierigkeiten und Chancen als ein kleines Diakonisches Werk, das einen Landkreis prägt.
Vielfalt als Stärke
Wir sind unterschiedlich, Vielfalt gehört auch zu unserer DNA. Wir sind nur nicht gewohnt das als Stärke zu formulieren. Dabei liegt gerade in dieser Unterschiedlichkeit ein großer Reichtum. Sie befähigt uns, auf das pluralistische Umfeld differenzierter zu reagieren, passgenau, eben: sozialraumorientiert und an den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Klienten ausgerichtet.
Die eine einheitliche Antwort, die für alle gilt, um gemeinsam Diakonie (und Kirche) für und mit anderen sein zu können, wird es nicht geben. Leitbild ist nicht Identität, Identität ist eher ein Prozess als eine unverrückbare Position und auch ein diakonisches Profil bedarf immer wieder der Überprüfung. Was es aber geben kann, ist eine gemeinsame Richtung des Handelns: Kirche und Diakonie bezeugen gemeinsam, erlebbar die Menschenfreundlichkeit Gottes. Wir können noch einladender und gewinnender werden – nach Innen und nach Außen.
Kirche und Diakonie
Wenn es gelingt, dass Kirche und Diakonie in ihren verschiedenen Gestalten als Ausdruck des evangelischen Glaubens wahrgenommen werden kann, als Kraft im Dienst der Schwachen – wäre viel gewonnen. Und das gelingt noch überzeugender, wenn wir ohne Berührungsängste gemeinsam mit anderen in der Zivilgesellschaft daran arbeiten, dass unserer Gesellschaft gerechter und barmherziger wird.
Anforderungen der Kirchenmitgliedschaft und des Arbeitsrecht sollten die Wahrnehmbarkeit der Diakonie und die Diakonie bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben befördern nicht behindern. Auch darüber werden wir in Zukunft weiter nachdenken.
Wir haben im Grunde nur zwei halbe Tage miteinander nachgedacht. Aber ich halte solche ergebnisoffenen Zusammenkünfte als Stationen des nie abgeschlossenen identitätsbildenden Prozesses für unersetzbar.
Lernen von der Diaspora
Wir brauchen diesen überregionalen Erfahrungsaustausch. Wir brauchen auch den Austausch von unternehmerischer Diakonie mit der sogenannten verfassten Kirche. Und: Wir brauchen den Austausch mit den vielen Kirchen in der weltweiten Ökumene, die es sehr selbstverständlich finden als Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft zu agieren und „ihr Ethos als Organisation“ mit Engagement und Fröhlichkeit zu leben.
Bei allem organisatorischen und theologisch-diakoniewissenschaftlichem Bemühen und bei allen gesellschaftlichen Veränderungen bleibt die Unverfügbarkeit und das Geheimnis des Mensch gewordenen Gottes, der auch in einer postmigrantischen Welt wirkt. Thorsten Silberbach, Theologischer Vorstand der Stephanus-Stiftung hat uns sehr persönlich und beeindruckend an seiner Ostbiographie teilhaben lassen. Er erzählte uns, wie er Mitglied einer schräg angesehenen christlichen Minderheit in der DDR wurde, begeistert von einem engagierten Jugendmitarbeiter der Gemeinde. Nicht zuletzt wegen ihm entschied er sich für sein Theologiestudium, das den Grund für seine theologische und diakonische Laufbahn legte. Und dann entpuppte sich ausgerechnet dieser Jugendleiter als ein Stasi-Mann.
Thorsten Moos stellte uns die Frage, ob nicht auch eine muslimische Krankenpflegerin, die in Loyalität zu ihrem Dienstgeber ein christliches Gebet mit einem Patienten spricht, zum Werkzeug und zum Zeichen unserer Sendung werden kann?
Der Theologe Eberhard Jüngel schreibt am Ende seines Buches ‚Gottes Sein ist im Werden‘: „Wenn Gottes Sein im Werden ist, dann ist auch uns mehr möglich.“