Der alte Hauptbahnhof von West-Berlin war der Bahnhof Zoologischer Garten, kurz Zoo, genannt. Klein und bescheiden wie die Bonner Republik. Ein paar Gleise. Eine zugige Bahnhofshalle. Mürrische Ansagen: Zurückbleiben! Wer das Erdgeschoss erreicht hatte und zur Schauseite hinausging, erblickte sofort zwei Zentren der City West: Den Zoopalast, wo Generationen von Schauspielerinnen und Schauspielern über den Roten Teppich stolzierten. Bling-bling Berlin, High Society, Sehen und gesehen werden. Und Ruine und Kubus der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, liebevoll im Berliner Slang „Lippenstift und Puderdose“ genannt. Ein Magnet des bürgerlichen Berlin.
Metropole der Einsamkeiten
Auf der anderen Seite aber, der „Schmuddelecke“, wo es nach Pisse und Kot stank, zeigte sich ein anderes Berlin. Niemals ist es besser beschrieben und verfilmt worden als in Christiane F.s: „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Da lag eine versiffte Spritze neben der anderen. Stricher, ob Jungen oder Mädchen, gingen zwangsweise ihrer Arbeit nach. Und Obdachlose jedweder Couleur suchten einen trockenen Platz für ihre Schlafsäcke, ein sättigendes Käsebrot, ein paar wärmende Klamotten zum Anziehen.
Hier, mitten in der Stadt, in diesem versifften, dunklen Eck war die Metropole der Einsamkeiten. 700 Mittagessen pro Tag in zwei oder drei Schichten. Scharen von Ehrenamtlichen in den himmelblauen Westen der Bahnhofsmission. 700 Schicksale von Menschen, denen die Einsamkeit nicht in die Wiege gelegt war. Mit dem Berliner Hans Fallada zu sprechen: „Jeder stirbt für sich allein.“ Da steht die Übersetzerin in der Schlange, die psychisch krank wurde und ihre Wohnung verlor. Der Soldat, der einen Einsatz nicht verkraftet hat. Der Alkoholkranke, der nicht mehr arbeitsfähig ist.
Wo es weh tut
Kein Wunder, dass Diakonie und Caritas dort schon seit nun über 100 Jahren aktiv sind. Seit Pastor Johannes Burckhardt noch im ausgehenden 19. Jahrhundert Heerscharen von jungen Frauen aus den östlichen Gebieten des Reiches am Ostbahnhof auffing, um sie vor Zwangsprostitution zu bewahren. Dort hingehen, wo es weh tut. Das ist der Platz von Innerer Mission, von Diakonie, von Caritas, von Stadt- und Bahnhofsmissionen.
Im Herbst, wenn es kühler und dunkler wird, wird dieser Schmerz der Einsamkeit noch dringlicher bewusst. Nicht mehr lange hin, dann kommen die letzten Sonntage des Kirchenjahrs mit Volkstrauertag, Allerheiligen, Ewigkeits- und Totensonntag. Der Gang auf den Friedhof. Das Gedenken an die Opfer und die Gefallenen der Weltkriege oder auch in Afghanistan. Die Mahnung zum Frieden.
Staunen und Stille
Wer sich dann aufs Rad schwingt und von den Kindern des Bahnhofs Zoo ostwärts radelt, steht nach gut zwanzig Minuten vor der Alten Nationalgalerie. Nun rasch noch die breiten Treppen erklimmen und schon steht der staunende Betrachter in einer ganz anderen Welt der Einsamkeiten.
Man passiert den phantastisch kuratierten bedrückenden „Birkenau-Zyklus“ Gerhard Richters und landet unwillkürlich in einem der großen Ensemble von Caspar David Friedrich. Alles auf seine Weise Einsamkeitsbilder. Romantische Bildwelt: ja. Aber weit mehr als dies.
Links den Kopf gewandt fällt der Blick des Betrachtenden unweigerlich auf ein seltsam monotones, fast monochromes Bild. Duster ist es, geradezu bedrohlich. Erdfarben überwiegen. Es ist auf den ersten Blick gar kein Gegenstand zu entdecken, etwa eine morsche Eiche oder eine Ruine wie man sie sonst von Friedrich kennt. Vielleicht hat hier die Kuratorin ganz bewusst ein Bild des 20. Jahrhunderts zu Friedrich gesellt?
Splendid Isolation
Drei Schritte näher wird eine horizontale Linie in mitten des Bildes sichtbar. Sie ist zu den Seiten hin nicht begrenzt. Es fehlt der Rahmen, den man sonst in der Romantik so schätzt: Zweige, Personen, Gebäude. Und ganz nah kommend meint man dann verloren, irgendwo in der Fußlinie des Bildes eine Figur zu erkennen. Der Schatten eines Menschen? Ein Blick auf den Titel des Bildes klärt das Rätsel auf: „Der Mönch am Meer“, Caspar David Friedrich, 1808-1810.
Auch das eine Einsamkeit. Wenngleich eine ganz andere als die der Kinder am Bahnhof Zoo. Selbstgewählt. Splendid Isolation. Meditierend. Klein und staunend vor der Größe der Schöpfung Gottes. Wie Caspar David einmal kommentierend schreibt: „Ich muss allein bleiben und wissen, dass ich allein bin, um die Natur vollständig zu schauen und zu fühlen“.
Für sich sein
Im vergangenen Jahr habe ich mich zusammen mit Johann Hinrich Claussen, dem Kulturbeauftragten der EKD, auf eine gedankliche Erkundung begeben. Wir haben einen „Atlas der Einsamkeiten“ geschrieben, der die Facetten und die Widersprüchlichkeiten des Einsamseins erkundet. Heraus gekommen ist ein Lesebuch mit dem Titel „Für -sich – Sein. Ein Atlas der Einsamkeiten.“ 248 Seiten, mit sozialpsychologischen und soziologischen Einsichten und vielen Geschichten, Reflexionen, Beispielen der unterschiedlichen Spielarten des Alleinseins.
Uns und mir lag daran, dass Einsamkeit nicht notwendigerweise etwas Schlimmes oder Bedrohliches ist. Menschen suchen, brauchen zuweilen auch Einsamkeit, um zu sich selbst zu kommen – oder auch zu Gott. Dafür kann man, muss man aber nicht, Mönch oder Nonne werden. Nicht umsonst hatte Hape Kerkeling mit seinem Pilgertagebuch „Ich bin dann mal weg“ einen durchschlagenden Erfolg. Und Menschen auf der Suche nach Selbstfindung unternehmen die Reise nach finis terrae, ans Ende der bewohnten Welt, und zur Kathedrale von Santiago.
Erzwungen oder gewählt
Und zugleich gibt es die Einsamkeiten, die am Bahnhof Zoo bis heute unmissverständlich sichtbar und erlebbar werden: Erzwungene Einsamkeiten. Einsamkeiten wider Willen. Mir ist ein Endsiebziger vor Augen, der seit Jahren allein lebt und nun, da er schwer krank ist, kaum noch seine Wohnung verlassen kann. Die Wände anstarrt. Dem die Ansprache fehlt.
Es sind aber eben nicht nur die Alten, Einsamkeit zieht sich durch alle Generationen. Auch die junge Studentin in der coolen Großstadt, seit drei Semestern ausschließlich digital studierend, fühlt sich einsam. Und viele versuchen das schmerzliche Gefühl zu verschweigen, weil Einsamkeit ausgrenzt, einsam ist nicht „angesagt“.
Es gab nicht nur die stille Corona-Katastrophe in den Heimen, sondern auch die bei jungen Leuten, die nicht mehr in die Clubs konnten, Semester vor dem Computer verbracht haben, gerade in eine neue Stadt gezogen sind und keinen Anschluss gefunden haben.
Gesichter der Einsamkeit
Einsamkeit kennt viele Gesichter. Und so bräuchte man vielleicht für dieses eine Wörtchen Einsamkeit gleich mehrere. Solitude, loneliness, isolation, seclusion, privacy – die englische Sprache erschließt Kontinente von Gefühlen und Schicksalen.
Stille, ruhige Herbstabende werden Momente der Einsamkeit bereithalten. Wohl dem, der sich davor nicht fürchten muss, sondern die gebotene Chance ergreifen kann. Aber: Ungewolltes, unfreiwilliges Alleinsein macht krank, sehr krank.
Wahrgenommen werden
Das zu ändern, den sehr unterschiedlichen Menschen aus ihrem erlittenen Alleinsein herauszuhelfen, indem wir das Thema zunächst besprechbar machen und möglichst vielfältige Orte der Begegnung und des Wahrgenommenwerdens schaffen, das ist eine drängende sozialpolitische Gestaltungsaufgabe in allen unseren Handlungsfeldern.