Wie geht es Ihnen? Nach 22 Monaten emotionaler Achterbahnfahrt in einer schrecklichen Pandemie, die in Deutschland schon fast 100.000 Menschenleben gekostet hat? Mitten in der vierten Welle, gefühlt jeden Tag ein weiterer Flugzeugabsturz mit Hunderten Toten? Resigniert oder noch hoffnungsvoll, dass es im nächsten Frühjahr ein Ende hat? Vielleicht sind Sie auch, so wie ich, manchmal „mütend“? In dieser seltsamen Stimmung zwischen wütend und müde?
Mütend auf eine schlingernde Politik, die sich nach der Bundestagswahl vor allem um sich selbst dreht, anstatt mit vereinter Kraft und professionell Vorsorge für das absehbare Hochschnellen der Infektionszahlen im zweiten Corona-Winter zu treffen?
Mütend, dass sich nicht alle, die es könnten, impfen lassen – wenn schon nicht aus Eigeninteresse, so doch wenigstens aus Solidarität mit ihren Mitmenschen, den Hochbetagten oder Kranken, die das Virus bekanntlich als erste hinrafft?
Gefühle in der Pandemie
Wie geht es Ihnen? Diese so einfache und doch so entscheidende Frage haben wir ein Jahr lang 50 Menschen gestellt, ausgewählt als Querschnitt unserer Gesellschaft.
In mehreren Befragungsrunden haben sie uns tiefe Einblicke in ihr Gefühlsleben gestattet: Wie sind sie im Alltag mit den Zumutungen der Pandemie umgegangen? Wo haben sie konkret Halt und Orientierung gefunden? An welchen Stellen traten Institutionen wie Kirche und Diakonie für sie überhaupt in Erscheinung?
Das Ergebnis der Befragung durch die evangelische Zukunftswerkstatt midi in Zusammenarbeit mit den Marktforscher:innen des Instituts Limest ist die Studie „Lebensgefühl Corona. Erkundungen in einer Gesellschaft im Wandel„, die wir vergangene Woche vorgestellt haben.
Qualitive Tiefenerkundung
Die von Diakonie Deutschland, EKD, dem Gesundheitskonzern Agaplesion und der theologischen Fakultät der Uni München getragene Studie war bewusst als qualitative Tiefenerkundung angelegt. Die Antworten sind nicht quantitativ-repräsentativ, sie geben aber Auskunft über das innere Erleben in einer Gesellschaft im Dauerstress der Pandemie.
Jedes gute Gespräch, jede Krisenbewältigung, beginnt mit dieser einfachen Frage: Wie geht es Ihnen? Oder sollte es zumindest. Denn wollen Kirche und Diakonie wirklich einen Beitrag zur Bewältigung der Pandemie und ihrer psychosozialen Folgen leisten, braucht es mehr als die üblichen Standardangebote, mehr als üblichen Angebote in den üblichen „Konfektionsgrößen“, in die schon irgendwie jeder und jede hineinpasst. Denn das tun sie nicht.
Die Studie leistet deshalb einen wichtigen Beitrag, sie lehrt zunächst genau hinzuschauen und zu verstehen – und erst dann Antworten und Angebote zu formulieren, die stimmig sind.
Wir haben dies schon bei den 50 Befragten gespürt. Viele haben sich ausdrücklich bedankt für die Fragen, das empathische Zuhören der Marktforscher, die viel zu seltene Gelegenheit, ihre inneren Welten für andere zu öffnen und zu teilen.
Achtsam oder ausgebrannt?
Um die Antworten sinnvoll zu ordnen und handhabbar für unsere Arbeit zu machen, haben die Forscher acht „Corona-Typen“ modelliert. Also acht Gruppen, die jeweils ganz unterschiedliche Einstellungen, Bedürfnisse, Ängste und Hoffnungen verbinden: Die Achtsamen, die Ausgebrannten, die Empörten, Die Denker:innen, die Erschöpften, die Genügsamen, die Mitmacher:innen und die Zuversichtlichen. Gehen Sie gerne mit dem „Pandem-O-Mat“ auf Erkundung, wo Sie sich selbst verorten.
Die Studie zeigt, das innere Erleben der Pandemie ist sehr unterschiedlich, hoch ambivalent. Es gibt sogar die, die der Krise Positives abgewinnen können, innerlich gut gefestigt, meist frei von materiellen Sorgen. Sie freuen sich über den Wegfall von anstrengenden Dienstreisen und haben sich ein gemütliches Home-Office eingerichtet.
Und dann gibt es natürlich die vielen, die ohnehin zu kämpfen haben mit ihren prekären Lebensumständen, ihrer inneren Stabilität und der Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Existenz durch Corona.
Gesellschaft unter Stress
Wie geht es Ihnen? Die psychosozialen und materiellen Folgen der Pandemie werden uns noch lange beschäftigen, auch und gerade Diakonie und Kirche. Denken wir nur an die „Generation Corona“, die Kinder und Jugendlichen, die in Lockdowns und Quarantänen von ihren Freund:innen getrennt irgendwie zurechtkommen müssen. Ausgebremst vom Virus in ihrer persönlichen und auch in ihrer schulischen Entwicklung.
Und vergessen wir nicht: Corona trifft auf eine Gesellschaft, die aktuell ohnehin unter hohem Stress steht: Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel. Ganze Wirtschaftsbereiche wandern heute in den digitalen Raum aus. All das sind Erschütterungen, deren Wellen viele Menschen und ihre Familien aus dem Gleichgewicht werfen.
Passgenau und wirkungsvoll
Diakonie und Kirche brauchen in dieser Zeit zuallererst eine „Suchhaltung“ – so wie sie in der Studie zum Ausdruck kommt. Fragen und genau hinhören. Erst danach gilt es Schlüsse für unsere Angebote zu ziehen und differenziert zu handeln: Möglichst passgenau und wirkungsvoll.
Dazu brauchen wir auch eine Politik, die verlässlich und flächendeckend Beratung und Angebote sicherstellt, in der Stadt wie auf dem platten Land. Andernfalls wären die Folgen verheerend.
Zum Beispiel für die die knapp drei Millionen Kinder in Deutschland, die in relativ armen Haushalten aufwachsen. Nicht nur für sie muss die Politik auch durch eine solide Finanzierung der Beratungsangebote bereits jetzt die Basis für nachholende Chancen- und Befähigungsgerechtigkeit legen.
Politikum Corona-Lebensgefühl
Sich mit dem Corona-Lebensgefühl der Menschen zu befassen, ist mehr als eine nette akademische Spielerei. Es ist sozialpolitisch und demokratiepolitisch unverzichtbar, die Gefühlslagen der Menschen wahr- und ernst zu nehmen.
Wie geht es Ihnen? Schreiben Sie mir gerne in den Kommentaren.