Besser scheitern

Mit dem Aschermittwoch hat die Passionszeit begonnen. Je länger, je mehr ist mir die Zeitrechnung des Kirchenjahres ans Herz gewachsen. Sie schiebt sich zwischen und über all die Termine, trotzt allen Krisen und zieht eine andere, verlässliche Dimension in meinen Alltag.

Zwischen die Vielfalt der Themen, mit denen wir uns zu beschäftigen haben, zwischen die geplanten und ungeplanten Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen und ihren Anliegen, verlässt sich etwas in mir darauf, dass es eine andere Tagesordnung gibt, die wir nicht machen, die termin- und themenunabhängig ist. Die trägt. „Das Reich Gottes ist mitten unter euch“, sagt Jesus Christus. Der Rhythmus des Kirchenjahres erinnert daran.

Passionszeit: Im ukrainischen Lwiw wird ein Kruzifix aus dem 15. Jahrhundert in Sicherheit gebracht. Foto: André Luís Alves/Global Imagens

Passionszeit bedeutet: Mitten in den nicht wegzuleugnenden, wegzutrinkenden oder wegzuarbeitenden Leidens- und Todeserfahrungen dieser Welt leben wir unsere angefochtenen Leben, unser Nicht-genügen-Können, unser Stückwerk. Und genau so gehen wir auf Ostern zu.

Passionszeiten

In dieser Woche erinnert die Welt sich an den brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine. Seit einem Jahr lebt Europa mit diesem Krieg – täglich sterben Menschen: Väter und Neffen, Geliebte und Großmütter, Cousinen und Lebenspartner. Täglich verlieren Menschen ihr zuhause, werden zu Flüchtlingen, täglich Leid, Angst, Überlebenskampf. Passionszeit. Und wir gehen auf Ostern zu. Auf dieses erstaunliche Fest, das so kühn behauptet, dass der Tod nicht das letzte Wort haben wird.

Ostern behauptet das auf eine andere Weise, als es der wankelmütige Frühling tut. Das Erwachen der Natur, auf das – Gott sei Dank – noch Verlass ist, tröstet auch, gibt alle Jahre wieder Kraft, macht anschaulich, dass die kalten, finsteren Zeiten immer wieder vorübergehen. Wer liebt die ahnungsvollen Boten des Frühlings nicht?

Aber trotzdem hilft mir diese „Kreislauf des Lebens“-Hoffnung der Natur, das Knospen und Blühen, nicht, wenn ich die Bilder des unendlichen Leides in den Nachrichten sehe. Eigentlich kann angesichts dieses Leides kaum etwas trösten.  Es ist eher angemessen, es in seiner Furchtbarkeit ernst zu nehmen und sich nicht ablenken lassen. Aushalten, hinsehen und trotzdem hoffnungsvoll und handlungsfähig bleiben.

Tränen und Trümmer

In der Passionszeit blendet sich die alte, sperrige Geschichte vom Leiden und Sterben und Auferstehen Jesu in die Bilder des Leidens und Sterbens der unglücklichen Menschen in den Kriegs- und Katastrophengebieten unserer Zeit. Aushalten, hinsehen, handlungsfähig bleiben zwischen Tränen und Trümmern.  „Gott wird Mensch, dir Mensch zu Gute“ haben wir Weihnachten an der Krippe gesungen und gefeiert, dass Gott sich wehrlos macht als Säugling – aus Liebe. Dass seine All-Macht die hingebende Liebe ist. Das ist mehr als knospende Bäume.

Mit diesem Abschnitt des Kirchenjahrs, den wir jetzt begehen, ist das Kind erwachsen geworden: Ein Mann, der passioniert spricht und heilt und die Strukturen der Macht mit seiner Art der Gottesliebe irritiert. Und die Christenheit liest die Evangelien, die davon erzählen, und erkennt und bekennt in Jesus die Macht Gottes, die sich heilend mit dem Leid der Menschen identifiziert.

Die Passionszeit erinnert: Gottes Macht keimt auch in der Hoffnungslosigkeit, im Scheitern, in der Todesangst, im Leid, im Sterben. Auch, wo die zivilisatorischen Kräfte  versagen, auf eine zerstörerische Weise in ihr Gegenteil umschlagen – begegnet und heilt die zur Hingabe bereite Liebe Gottes als irritierende und tragende Antwort. Mitleidend. Mitsterbend.

Vom Heilwerden

Mit dem Einlassen auf diese Macht der Liebe beginnt das Heilwerden. Gottes Hingabe an diesen wunderbar erwählten Planeten setzt sich durch, allen düsteren Prognosen zum Trotz. Daran versuchen Christinnen und Christen sich zu orientieren. Üben sich in Vertrauen. Jeden Tag. Das nennen wir Glauben. Auferstehung heißt: In der Brüchigkeit und Fragmentiertheit unseres Tuns und Erkennens gehen wir auf Ostern zu.

Und diese „Immer-wieder-und trotz-alledem“-Hoffnung verbindet sich in den kommenden Wochen des Kirchenjahrs mit einer Haltung, die zu einer Hoffnung für andere werden kann: Das Wort Passion bedeutet Leiden u n d Leidenschaft. In ihm verbinden sich Begehren, Liebe und leidenschaftliche Lebendigkeit aufs Engste mit Verlusterfahrungen, Schmerz und Scheitern.

Passioniert leben

Wer einer Passion folgt, weiß das. Die Wochen vor Ostern erinnern, Leid und Leidenschaft gehören zu dem Weg, den der passionierte, der lebendige, menschenfreundliche Gott mit uns geht. Und den wir mit ihm gehen.

Unsere Grenzen, unsere Hilflosigkeit, auch unser Scheitern entfalten leidenschaftliche Kraft und hoffnungsstiftendes Potenzial für andere und für uns selbst. Leid und Schmerz gehören dazu. Eine gute Figur zu machen, immer gut auszusehen ist nicht die Idee der Passionszeit. Und erst recht keine Voraussetzung für das Wunder der Auferstehung.

Auf Ostern zugehen

Wie der irische Schriftsteller Samuel Beckett erfahren wir: „Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Auch dazu lädt die Passionszeit ein. Wir scheitern. Wir scheitern besser, wir gehen auf Ostern zu.