Die Diakonie hat allen Anlass, ihr 175-jähriges Bestehen zu feiern. Großartiges ist in dieser Zeit gewachsen, wurde von beeindruckenden Menschen #ausLiebe gesät, auch heute. Doch zum ehrlichen Rückblick gehört auch: Es gab auch Versagen, es gab Versäumnis. Es gab Gewalt unter den Dächern unserer Häuser.
Es gab Menschen, die gedemütigt, erniedrigt, gequält, und Menschen, die in der Nazi-Zeit gar in den Tod geschickt wurden. Es gab Menschen, die das getan haben und andere, die wegsahen und nichts oder zu wenig dagegen unternahmen. All das ist unerträglich und darf nicht vergessen werden.
Hinzu kommt: Diakonie ist immer auch Kirche Jesu Christi. Hier stellt sich die schwerwiegende Frage: Wie vergiftet muss eine Religiosität sein, die bedingungslose Barmherzigkeit durch grausame Unbarmherzigkeit ersetzt?
Beschämt und ratlos
Im Jubiläumsjahr 2023 stellt sich die Diakonie auch ihren Schattenseiten. In Erinnerung an eine Vergangenheit, die beschämt, ratlos und wütend macht. Wir tun das auf unterschiedliche Weise: Gedenkend, aber auch in wissenschaftlich nachfragender, historisch einordnender Perspektive.
Wo kommen wir her, ist eine einfache Frage, die komplexe Antworten verdient. Im Rahmen einer hochrangig besetzten historischen Fachtagung in Bielefeld-Bethel wird Ende April unter der Überschrift „Ordnung und Freiheit. Ambivalenzen in der Geschichte der Diakonie“ darüber diskutiert.
Licht und Schatten
Beides soll beleuchtet werden, die Licht- und die Schattenseiten der Diakonie-Geschichte. Zu den düstersten Kapiteln zählen etwa Kriegsbegeisterung und Faschismus, Untertanengeist, Eugenik und auch die Heimkindererziehung nach 1945.
Wo waren Innere Mission und Diakonie geprägt von Paternalismus und autoritären Strukturen? Aber auch: Welche befreienden, anwaltschaftlichen und stärkenden Momente sehen wir im Blick zurück? Und wie hängt beides zusammen? Was wir aus den Ambivalenzen der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen haben, werden wir öffentlich diskutieren.
Die diesjährige Passionszeit nehmen wir zum Anlass, um gedenkend und bekennend zurückzuschauen. Wir laden unsere Mitglieder besonders jetzt dazu ein, an die dunklen Kapitel ihrer Geschichte zu erinnern. In ihren Häusern, gemeinsam mit den Menschen, die heute in ihnen leben und arbeiten. In Andachten, Gottesdiensten, Gedenkveranstaltungen. Denn, wo Schuld ist, muss Schuld bekannt werden.
Verantwortung für heute
Vergessen ist keine Option. Keine „Gnade der späten Geburt“ entbindet uns von der Aufgabe, uns mit dem Leid und der Schuld auseinanderzusetzen, die unsere diakonischen Vorfahren auf sich geladen haben – sonst laden wir selbst durch unser Vergessen Schuld auf uns. In vielen diakonischen Einrichtungen gibt es heute eine Erinnerungskultur, die eigene Formen und Formate gefunden hat.
Dabei geht es nie nur allein ums Erinnern. Denn mit jedem Gedenken stellen sich Fragen nach der eigenen Verantwortung für das Heute – immer wieder neu. Wie sorgen wir dafür, dass Übergriffe und Gewalt in unseren Häusern keinen Platz haben, dass sich alle Menschen sicher und gesehen fühlen können?
Wie stellen wir sicher, dass Prävention und Fehlerkultur gelebt werden? Und Fehlverhalten konsequent geahndet wird. Wie werden wir sensibel für unsere blinden Flecken? Im Interesse der Menschen, die wir begleiten, müssen wir sehr aufmerksam bleiben.
Schuld bekennen
Heute bin ich wegen des Gedenkens im Jubiläumsjahr zu Gast bei der Hephata-Diakonie in Schwalmstadt-Treysa. Während der Zeit des Nationalsozialismus ist Treysa erschreckend früh daran beteiligt, das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durchzusetzen.
Schon von 1937 bis 1939 – also noch vor dem Beginn der sogenannten T4-Aktion – werden 388 Bewohnerinnen und Bewohner aus Hephata abtransportiert und in staatliche Einrichtungen verlegt. Die meisten von ihnen werden später ermordet. Seit 1990 erinnert ein Mahnmal direkt neben der Kirche an die Verbrechen von damals. Jedes Jahr am Buß-und Bettag wird hier der Opfer gedacht.
Ambivalenz aushalten
Die Geschichte der Hephata-Diakonie beginnt im Jahr 1864 mit der Gründung eines Diakonissenhauses. Häuser für Mädchen und Jungen mit geistigen Behinderungen entstehen. Jugendhilfe, Krankenhaus und Diakonenausbildung kommen dazu. Heute ist Hephata ein weitverzweigtes diakonisches Unternehmen, das an fast 60 Orten in Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz mehr als 5300 Projekte und Plätze für Kinder und Erwachsene anbietet.
Hephata gehört zu den diakonischen Trägern, die sich sehr konsequent und transparent mit den dunklen Kapiteln ihrer Vergangenheit befasst und um Aufarbeitung bemüht haben. Aus den Fehlern und Abwegen der Vergangenheit lernen zu wollen, ist fest in der Unternehmenskultur verankert. Ambivalenz wird ausgehalten, Schuld nicht kaschiert.
Der zweite Sonntag in der Passionszeit. Reminiscere bedeutet „gedenken“ und zitiert den Anfang eines Verses aus dem 25. Psalm: „Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit.“ Heute werden wir in Stille und betend am Mahnmal in Treysa der Opfer der Patientenmorde während der NS-Zeit gedenken.
175 Jahre Diakonie. Licht und Schatten. Auch tiefe Finsternis.
Bessere Zukunft
Dass wir heute im Anschluss an die Gedenkstunde in Hephata einen neuen Gärtnerei-Laden des diakonieeigenen Bioland-Betriebs eröffnen können, ist ein Geschenk: Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten hier gemeinsam an einer nachhaltigen und besseren Zukunft. Sie gestalten diese Zukunft in Erinnerung an die Opfer und im Wissen um die leidvollen Kapitel unsere Geschichte.