Beeindruckende Lebenskraft und sehr viel menschliche Not

Er sitzt mir im Rollstuhl gegenüber. Ein kräftiger junger Mann, die Baseballkappe verkehrt herum auf dem Kopf. Vor drei Jahren schon verlor Mohammed in Damaskus bei einem Bombenanschlag beide Beine und einen Arm. Auf einem Auge ist er seitdem fast erblindet. Seit neun Monaten lebt der 28-Jährige in einer diakonischen Einrichtung* für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge in Berlin-Lichterfelde.

Präsident der Diakonie Ulrich Lilie unterhält sich mit Mohammed, der im Rollstuhl sitzt.
In der Gemeinschaftsunterkunft in Lichterfelde leben 280 besonders schutzberdürftige Geflüchtete – so wie Mohammed. © Ute Burbach-Tasso

Tischler hat er in Syrien gelernt, erzählt er mir in gebrochenem Deutsch, einer der Betreuer – seit fünf Jahren in Deutschland – übersetzt. Grafik-Design würde Mohammed jetzt gerne studieren. Er möchte gestalten und wünscht mir Frieden und Erfolg, als wir uns verabschieden.

Auch Ahmed (Name geändert) treffe ich in seinem Zimmer. Ein Tisch, ein Stuhl, zwei Betten, ein Spind, ein Fernseher und eine Lichterkette. Es ist funktional, aber freundlich. Der Zwanzigjährige floh aus Jarmuk, einem Lager für palästinensische Flüchtlinge in Syrien. Das hieß zuletzt: Kugelhagel und Raketenbeschuss, extrem schlechte hygienische Bedingungen, Hunger und Durst. Ahmed leidet außerdem an einer akuten Leukämie, dank einer Behandlung in einem Berliner Krankenhaus geht es ihm heute besser. Er hofft sehr darauf, gesund zu werden und auf eine Zukunft ohne Gewalt und Terror in Deutschland. Sein älterer Bruder ist mit ihm und seiner kleinen Familie gemeinsam geflohen, damit Ahmed überhaupt eine Überlebenschance hat. In dem syrischen Lager wäre er längst gestorben.

Das sind nur zwei Flüchtlingsgeschichten, zwei Menschen, die sehr große Herausforderungen zu bewältigen haben werden und die in diesen Monaten bei uns Zuflucht suchen. In dieser Unterkunft, einem Containerdorf in Lichterfelde-Süd, leben etwa 280 Menschen. Überwiegend alleinstehende Frauen, Alte, Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen, Schwangere, Homosexuelle und Traumatisierte. Darunter 90 Kinder. Sie gehören zu den Schutzbedürftigsten unter den Flüchtlingen. Für sie ist dieser Ort konzipiert. Jede und jeder von ihnen hat Erinnerungen, Sorgen, die man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Sie brauchen besondere Aufmerksamkeit und Begleitung.

Zum Mitarbeiterstab gehören Sozialarbeiter, Hauswirtschaft, Haustechnik, Wachschutz und auch eine fest angestellte Ergotherapeutin. Sie arbeitet mit den traumatisierten Flüchtlingen in einem eigens dafür ausgestatteten Therapie- und Sportraum. Doch damit sind die 15 Euro, die die Einrichtung pro Flüchtling und Tag aus öffentlichen Mitteln erhält, vollkommen ausgereizt. Das weitere Angebot ist nur möglich, weil sich weitere Ärzte und Therapeuten ehrenamtlich engagieren: die Zusammenarbeit etwa mit der Charité ermöglicht eine psychiatrische Sprechstunde, ehrenamtliche Ärzte der Initiative „Medizin hilft Flüchtlingen“ bieten eine Allgemein- und Kindersprechstunde an. Es kommt auch eine Physiotherapeutin, die sich auch um Mohammed kümmert, Rollstuhltraining inklusive. Einige Flüchtlinge, so wie Ahmed mit seiner Leukämie, brauchen eine stationäre Behandlung im Krankenhaus. Problematisch ist es immer, die notwendige Anschlusspflege zu gewährleisten. Hier klafft eine der vielen Versorgungslücken.

Ahmed aus Syrien und Diakonie Präsident Ulrich Lilie unterhalten sich
Ahmed aus Syrien leidet unter einer akuten Leukämie. © Ute Burbach-Tasso

Die Lichterfelder Gemeinschaftsunterkunft „funktioniert“ nur dank der engen Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen, hier unterstützen sich Menschen gegenseitig zuverlässig und mit großem Improvisationstalent. Dazu kommt das nachbarschaftliche Umfeld. Natürlich, manchmal beschweren sich Anwohner über den Lärm der Kinder. Aber die Mitarbeitenden suchen immer wieder den Kontakt zu den Nachbarn und laden sie ein, die geflüchteten Menschen kennenzulernen. So wurden aus Fremden Paten, die Flüchtlinge in der Unterkunft besuchen, sie bei Behördengängen begleiten oder Ausflüge mit ihnen machen. Ohne sie könnte Mohammed die Einrichtung heute kaum verlassen.

Nach solchen Besuchen beschleichen mich jedes Mal sehr gemischte Gefühle: Ich bin berührt und empfinde einen tiefen Respekt vor diesen Menschen, die das Ausmaß ihrer Probleme so nüchtern anerkennen und dagegen halten. Und ich bin immer wieder überwältigt von soviel Leid, das Menschen anderen Menschen zufügen. Ich sehe die strukturellen Schwierigkeiten, die organisatorischen und finanziellen Herausforderungen, vor denen wir noch stehen, sehr deutlich. Und doch, diese geflohenen Menschen und ihre engagierten Helferinnen und Helfer zeigen auch die besten Seiten unserer Gesellschaft, die humanitäre Stärke und menschliche Zugewandtheit unserer Kultur. Das strahlt aus in unsere Gemeinwesen: Genauso beginnen gute Geschichten und eine lebenswerte Zukunft. Davon bin ich überzeugt.

Ich habe gelernt, dass für diese besondere Gruppe von Geflüchteten ein Gesundheitshaus, in dem die nachstationäre Pflege kultursensibel und zugleich kostenbewusst geleistet werden könnte, ein dringend notwendiges und sehr sinnvolles ergänzendes Angebot wäre. Das würde nicht nur unnötige Krankenhauskosten sparen, sondern auch die Einbeziehung von Angehörigen in die Pflege ermöglichen, die diese Verantwortung gerne wahrnehmen.

In diesem ersten Zuhause auf Zeit, können die Geflüchteten beginnen, ihre furchtbaren Erlebnisse zu verarbeiten, um Kraft zu finden, ein neues Leben in einem neuen Land zu wagen. Damit das gelingt, brauchen sie unsere nachhaltige Unterstützung. Das heißt eine schnelle Anerkennung als Flüchtling, eine eigene Wohnung, einen Arbeits- oder Ausbildungsbildungsplatz und die Möglichkeit, an unserer Gesellschaft teilzuhaben und sie mit zu gestalten. In Lichterfelde-Süd wird sehr engagiert ein guter Anfang gemacht. Aber entscheidend ist, wie es danach weitergeht mit Mohammed und Ahmed. Sie sind beeindruckend hoch motiviert. Sie verdienen nicht nur unser Mitgefühl, sondern auch unser aller nachhaltigen Einsatz für eine gelingende Integration.

* Träger ist die milaa gGmbH, eine 100-prozentige Tochter des Evangelischen Diakonievereins Berlin-Zehlendorf e.V.. Die Abkürzung „milaa“ steht für „miteinander leben aber anders“. Unter www.milaa-berlin.de sind alle Einrichtungen der milaa genannt. Zudem gibt es dort weitere Informationen, zum Beispiel wie man sich ehrenamtlich engagieren kann oder wie man mit einer Spende helfen kann.