Diakonie muss sich ändern

Heute bin ich in Karlsruhe zu Gast bei der Diakonischen Konferenz der Diakonie Baden, einem unserer 15 Landesverbände. Das Wort „Landesverband“ klingt etwa so aufregend wie „Behörde“. Dabei ist ein Landesverband ein vibrierender Kosmos. Nur ein paar Zahlen: Derzeit sind rund 490 Kirchengemeinden, 24 Kirchenbezirke, 23 Kirchengemeinde- und Diakonieverbände und mehr als 360 Freie Träger Mitglied im Diakonischen Werk Baden.

weil-wir-es-wert-sind-2

Sie arbeiten in den Bereichen Kranken-, Jugend-, Familien- und Altenhilfe, Hilfe für Menschen mit Behinderungen, Personen in besonderen sozialen Situationen und Tageseinrichtungen für Kinder. Mehr als 36 000 Frauen und Männer stehen bei der Diakonie in Baden in Lohn und Brot, unzählige Freiwillige ermöglichen die Arbeit. Ein vibrierender Kosmos eben.Hier wird Sozialpolitik gemacht, werden Tränen getrocknet, Beratungsgespräche geführt, gesellschaftliches Klima mitgeprägt, Nächstenliebe gelebt, der Glaube an einen Gott, der in Jesus Christus für die Schwachen eintritt, im Alltag erfahrbar gemacht. So wichtig ist Diakonie – und das nicht nur in Baden. Und wir könnten noch viel stärker sein, wenn wir unsere Gemeinsamkeiten noch stärker betonen und unsere Kompetenzen noch stärker auch untereinander nutzen würden.

Drängender formuliert: Wenn wir als großer Wohlfahrtsverband unsere gesellschaftliche Prägekraft erhalten wollen, werden auch wir uns verändern müssen. Das ist mir ein wichtiges Anliegen. Darüber möchte ich mit unseren Mitgliedern ins Gespräch kommen – nicht nur in Baden.

Vier Stelleschrauben scheinen mir entscheidend zu sein:

  1. Die Wahrnehmbarkeit von Kirche und Diakonie ändert sich. Wir stehen in einem Wettbewerb der Weltanschauungen. Unsere Kirche wird kleiner, auch ihr öffentlicher Einfluss verändert sich. Umso brennender ist die Frage: Wie können wir öffentliche Diakonie bleiben? Diese Antwort können wir nur gemeinsam geben. Ich denke, es wird immer wichtiger werden, dass wir unsere Kräfte bündeln, als Diakonie in der Fläche erkennbar sind. Dazu gehört etwa, dass sich auch starke freie Träger zur Diakonie sichtbarer bekennen. Ein stärker geschlossenes Erscheinungsbild in unserem Marken – Auftritt nach außen hilft, Sichtbarkeit deutlich zu stärken. Wo Diakonie drin ist, sollte Diakonie draufstehen. Wir sind viel mehr, als derzeit an Hauseingängen oder auf Briefbögen zu sehen ist. Deswegen war und ist die weitere Verbreitung unseres Corporate Designs so wichtig. Oder die gemeinsamen Kommunikationsstandards, die wir für unsere Öffentlichkeitsarbeit entwickeln. Öffentliche Diakonie braucht moderne Kommunikation nach innen wie nach außen. Unsere neue Website, die im Dezember an den Start geht, bietet auch unseren Mitgliedern neue und mehr Möglichkeiten, sich auf dieser Website mit einzubringen.
  2. Die Öffnung des kirchlichen Arbeitsrechts ist überfällig und hat Folgen. Nicht nur der Fachkräftemangel in der Pflege und in der sozialen Arbeit, sondern auch die kulturelle, weltanschauliche Ausdifferenzierung in unserer Bevölkerung machen es notwendig, dass wir auch Kolleginnen und Kollegen beschäftigen, die nicht evangelisch, ja, noch nicht einmal kirchlich sind. In vielen Regionen Deutschlands ist es schon lange unmöglich, offene Stellen zeitnah zu besetzen, wenn Kirchenmitgliedschaft erwartet wird. Und: Es gibt Konstellationen, in denen es die Professionalität schlicht verlangt, etwa eine Kindergärtnerin einzustellen, die aus eigener Erfahrung weiß, wie es ist mit Migrationshintergrund einen Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Auch die Muslima kann und wird Kollegin sein. Weil das so ist, verändert sich Diakonie quasi von innen heraus. Obwohl es sicherlich auch zu Zeiten einer „geschlossenen“ Konfessionalität große Unterschiede im Glauben eines juristischen Vorstandes, einer Oberärztin und eines Erziehers gegeben hat. Diakonie war schon immer weltanschauungs-vielfältiger, als die theologischen Vorstände das gerne gehabt hätten. Schon unter jeder Diakonissenhaube steckte ein ganz eigener Kopf. Trotzdem ist es etwas anderes, wenn wir uns bewusst für andere Religionen öffnen. Diakonie will evangelisch bleiben und diese Öffnung vom Evangelium her verstehen. Eine weitere große Herausforderung ist demnach: Offenheit und evangelisches Profil auszubalancieren. Das wird kein einfacher Prozess. Es gilt, in unseren Verbänden und Einrichtungen Formen, Formate, auch Organisationsstrukturen zu entwickeln, die evangelische Identitäten und weltanschauliche Vielfalt zusammendenken und –leben können. Was ist das Evangelische an der Diakonie?
  3. Auch die innere Systematik unserer Arbeit ändert sich. Wir müssen noch tiefer verstehen, vom einzelnen Klienten her zu denken – von seinen, ihren Bedarfen u n d Kompetenzen. Das wird das Gesicht unserer Einrichtungen in Zukunft noch stark verändern. Wir sind nicht für die Pflege und Betreuung von Alten, Kranken, Armen oder Behinderten zuständig, sondern für Andreas und Christina, für Frau Warnecke oder Herrn Lilie. FürMänner und Frauen, die Begleitung und Unterstützung brauchen, um in ihrem Lebensumfeld ihre eigenen Potentiale entfalten zu können. Wir werden auch in den Strukturen unserer Hilfeangebote flexibler werden, um dieser Vielfalt gerechter zu werden.

Und, last, but not least:

  1. Wir müssen die Sozialräume, in denen unsere Einrichtungen zuhause sind, noch stärker in unsere Arbeit mit einbeziehen. Wir brauchen starke Partner in Kommunen und Landkreisen, um unser evangelisch fundiertes Ideal einer vielfältigen Gesellschaft als (Teilhabe-) gleichberechtigte Gemeinschaft von Stärkeren und Schwächeren mit unterschiedlichen Begabungen gemeinsam mit Anderen aus dem Kiez, aus dem Stadtteil oder dem Landkreis zu ermöglichen. Es gilt, alte Lebensqualitäten wie Nachbarschaft und Zusammenhalt vor Ort mit zu gestalten und zu unterstützen. Dazu gehört auch eine neue Verhältnisbestimmung von Einrichtungen und den Kirchengemeinden in der Nachbarschaft. Womit wir wieder bei Punkt 1 und 2 wären: Diakonie ist evangelische Kirche und Kirchengemeinde ein Ort gelebter und Diakonie. Wir können im gemeinsamen Dienst an den Menschen enger zusammenrücken. In unserer Gemeinsamkeit erkennbarer werden. Und wir können Formen der Zusammenarbeit erfinden, von der beide Seiten profitieren werden.

So weit, meine vier Stellschrauben. Ich weiß, dass ich das Wort „müssen“ oft verwendet habe. Zu oft? Ich glaube allerdings tatsächlich, dass auch die Diakonie keine Wahl hat, als sich zu ändern. Was glauben Sie?

P.S. Die Kollegen aus Baden haben ein kleines Interview mit mir zu dem Thema gemacht.