Durst in Deutschland

Ohne Wasser – kein Leben. Die 59. Spendenaktion von Brot für die Welt widmet sich dem Recht auf Wasser. Fast 850 Millionen Menschen auf unserem Planeten haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Sie und ich – wir gehören ganz klar nicht dazu. In meinem Büro etwa steht immer eine Karaffe mit Wasser. Und wenn die Statistik stimmt, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass jeder und jede von uns täglich rund 123 Liter Wasser verbraucht. Einfach so, ohne groß darüber nachzudenken. Das sind mehr als 12 Zehn-Liter-Eimer am Tag. So hoch war der Pro-Kopf-Wasserverbrauch in Deutschland jedenfalls im Jahr 2016.

„Ohne Wasser kein Leben!“: 850 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. © Jörg Böthling / Brot für die Welt

Wir trinken, waschen, duschen, baden, spülen, gießen, putzen täglich mehr als 12 Wassereimer leer – in der Regel in Trinkwasserqualität. Und niemand von uns muss auch nur einen dieser Eimer mit Wasser vom Brunnen oder vom Fluss nach Hause tragen. Wir in Deutschland sind reich, auch an Wasser. Wir schleppen nicht, sondern öffnen stattdessen einen der vielen Wasserhähne in unserem Zuhause. Das lässt sich nebenbei mit nur drei Fingern machen. Kinderleicht, rasch ein Glas Wasser zu trinken, um sich den wirklich wichtigen Dingen in unserem Leben zuwenden.

Es ist darum nicht erstaunlich, dass Durst in Deutschland für viele nicht mehr als ausbleibenden Genuss beschreibt, oder die Vorfreude auf eine kommende Annehmlichkeit, jedenfalls kein lebensbedrohliches Empfinden. Obwohl wir natürlich wissen, dass auch wir viel länger ohne Essen auskommen könnten, als ohne Flüssigkeit. Drei Tage sagt man, hält ein Mensch durch, bis er verdurstet.

Mondwasser für die Seele

Trotzdem: Durst in Deutschland ist ein vorübergehendes Gefühl – das ist die Alltagserfahrung der meisten. Die Jahreslosung, die das Jahr 2018 begleitet, trifft bei uns darum ins Leere. Sie beantwortet eine Not, die wir nicht, nicht mehr, noch nicht wieder kennen: „Gott spricht: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“ (Offenbarung 21,6.)

Lebendiges Wasser, im Grunde auch umsonst – haben wir schon. Das Leitungswasser aus der Wand ist lebendiger, als das, was die meisten unserer Mitmenschen in Afrika, Asien und Lateinamerika je zu schmecken bekommen. Und wem es nicht gut genug ist, der kauft sich Mineralwasser – mit und ohne Sprudel. Manche schwören auch auf Mondwasser.

Unter Christinnen und Christen unserer Breiten ist auch darum beliebt, den Durst spirituell zu verstehen, als Durst der Seele nach Lebensintensität, nach Liebe, nach Gott. Was bleibt einem Wohlstandsmenschen auch sonst übrig? Unser segensreiches Wirtschaftssystem hat auf unserem Winkel des Planeten, die körperliche Erfahrung der existenziellen Bedrohung durch Durst oder Hunger – Gottseidank – eliminiert. Ja, ich empfinde die Tatsache, dass 80 Millionen Menschen in Deutschland genug zu trinken haben, auch als ein segensreiches, unverdientes Gottesgeschenk, auch wenn sie das Ergebnis einer generationsübergreifenden Gemeinschaftsleistung ist, die man natürlich auch ökonomisch und politisch beschreiben kann. Und ich möchte auch niemandem mit dem moralischen Zeigefinger kommen.

Segen Gottes und sauberes Wasser

Aber Fakt ist: Wir haben keinen Durst. Wasser ist nicht mein Problem und Ihres auch nicht. Die Jahreslosung übersteigt unseren Horizont – und schon das finde ich wichtig. Wir verstehen nicht wirklich, worum es in dieser Verheißung geht. Nämlich nicht in erster Linie um uns und unsere Sorgen. 850 Millionen durstige Menschen haben drängendere Probleme. Vielleicht ist es eine gute kontemplative Übung für 2018, das ein Weilchen auszuhalten und uns nicht zu schnell mit dem Hunger unserer Seele in die erste Reihe zu drängeln.

Wir Wohlstandschristinnen und -christen werden mitunter zu schnell spirituell. Mir sagt die Jahreslosung heute: Nur wer weiß, was es heißt Durst zu haben und keinen Zugang zu kostenlosem, lebendigen Wasser hat, kommt in die Nähe dessen zu erahnen, was Gott uns Menschen, allen Menschen, verheißt. Ahnen wir etwas von unseren ungeheuren Privilegien, dann entsteht vielleicht ein echter Durst in uns – nach einem Jahr 2018 mit mehr Gerechtigkeit und Frieden für alle. Mit Ihnen bitte ich um den Segen Gottes für das neue Jahr und sauberes Wasser für die, die solches Wasser noch nie in ihrem Leben geschmeckt haben.