Am Sonntag, den 17. Juni 2018 spielt die deutsche Nationalmannschaft in der Fußballweltmeisterschaft gegen Mexiko, der Aufstand vom 17. Juni 1953 jährt sich zum 65. Mal, und die muslimische Welt feiert das Ende der Fastenzeit. Und am Tag vor diesem Sonntag, also am Samstag, den 16. Juni, begehen wir den zweiten Tag der Offenen Gesellschaft. Letzteres ist mir an diesem Wochenende am Wichtigsten. Bitte vormerken!
Ich wünsche mir, dass wir auch in Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen an diesem Tag aktiv werden und die unterschiedlichsten Menschen an den unterschiedlichsten Tischen unkompliziert zusammenbringen: zum Essen, zum Reden und Kennenlernen, zum lebendigen Austausch über das Land, in dem wir gemeinsam leben.
Im vergangenen Jahr kamen am 17. Juni im ganzen Bundesgebiet an 455 Tafeln gut 20 000 Menschen zusammen. Das war ein Anfang, aber da ist natürlich noch deutlich Luft nach oben. In meinen kühnsten Träumen tun sich beispielsweise Sportverein und Kirchengemeinde, Einzelhändler und Altenheim in der Nachbarschaft mit der Flüchtlingsunterkunft, dem Moscheeverein, der Synagoge und der Freiwilligen Feuerwehr zusammen und sorgen dafür, dass viele Menschen, die sonst wenig miteinander zu tun haben, zum ersten Mal an einem Tisch sitzen. Alle bringen etwas Neugierde auf die Anderen und etwas zu essen mit.
Vom Öffnen der Offenen Gesellschaft
Die Offene Gesellschaft – ich habe vor anderthalb Jahren diese demokratiebegeisterte Bewegung mit aus der Taufe gehoben und bin seitdem regelmäßig im Gespräch zum Thema. Unser gemeinsames Anliegen: ein entschiedenes Ja zur Vielfalt und die Mobilisierung und Vernetzung der Freundinnen und Freunde der Offenen Gesellschaft. Ich stehe überzeugt hinter diesen Zielen, aber was nicht nur mich seit einiger Zeit beschäftigt, ist, wen wir mit unseren Aktionen tatsächlich erreichen – und wen nicht? Ich fürchte, dass sich von den Formen und Formaten bislang nur die „üblichen Verdächtigen“ ansprechen lassen, und wir in unserer „bunten“ Filterblase unter uns bleiben. Das wäre zu wenig.
Wenn ich mir etwa die schönen Fotos und Filme auf der Website der Offenen Gesellschaft anschaue, dominiert ein bestimmtes Milieu, das ich mag, das aber keinesfalls für die ganze Gesellschaft repräsentativ ist. Das ist nicht besonders einladend für alle, die anders sind. Auch darum finde ich es wichtiger denn je, dass sich die Diakonie und weitere gesellschaftliche Gruppen in die Offene Gesellschaft einbringen. Ich wünsche mir mehr Anzugträger, mehr Kleingärtnerinnen, mehr Rentner und mehr Menschen, die es eigentlich seltsam finden, sich an solche Tafeln hinzusetzen.
In unseren Einrichtungen und Diensten in der Diakonie begegnen wir vielen Menschen, die in den gesellschaftsprägenden Diskursen zu wenig gehört werden. Wenn es gelingen könnte, sie mit den „Vielfalts-Performerinnen“ an einen Tisch und ins Gespräch zu bringen – schon das wäre ein Durchbruch für die demokratische Kultur. Diakonie heißt schließlich Dienen und Dazwischen gehen. Die Aufforderung hinter der „Unerhört“-Kampagne der Diakonie, den Unerhörten zuzuhören u n d die Anliegen der Offenen Gesellschaft gehören zusammen.
Rentner first!
Apropos Kampagne: Ich habe in den vergangenen Wochen einige erzürnte Emails bekommen, die sich auf die neue Kampagne der Diakonie beziehen. (Sie erinnern sich vielleicht an den Blog vom 10. Januar oder haben inzwischen selber Plakate gesehen.) Unter ihnen Rentnerinnen und Rentner, die sich über die Plakate „Unerhört! Diese Flüchtlinge! und „Unerhört! Diese Obdachlosen“ geärgert haben, die davon erzählen, wie unmöglich es für sie sei, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Und dass in ihrer Wahrnehmung Flüchtlinge bevorzugt werden. „Rentner first!“ formulierte einer und machte keinen Hehl aus seinem Hass.
Ich bin betroffen und gleichzeitig froh über diese Briefe. Zeigen sie doch, dass wir mit der neuen Kampagne einen Nerv treffen. Es gibt in unserem Land offenbar zu viele Männer und Frauen, die nicht vorkommen oder die das Gefühl haben, nicht vorzukommen. Was ja schon ausreicht, um den Zusammenhalt einer Gesellschaft zu gefährden. Wenn Menschen in ihrem Alltag, vor ihrer Haustür, die Vorzüge von Vielfalt, Demokratie oder Meinungsfreiheit nicht erleben, am unbestreitbar vorhandenen Wohlstand des Landes zu wenig Anteil haben oder keine Hoffnung, dass sich daran etwas ändert, ist Wut ein berechtigtes Gefühl. „Unerhört! Diese Rentnerinnen!“- Wie finden wir aus dem gegenseitig gut eingeübten Empörungsmodus wieder heraus?
Meistens beschimpfen diese Menschen in ihren Emails mich auch persönlich, weil sie wahrnehmen, dass ich mich als Diakonie-Präsident, etwa für Familiennachzug einsetze oder eben für die Offene Gesellschaft eintrete. Das ist nicht schlimm, ich halte das bislang gut aus. Was mich aber bestürzt ist zum einen, dass meine Kritikerinnen und Kritiker offenbar nicht wahrnehmen, dass wir in der Diakonie mit unvermindertem Engagement auch weiterhin mit Armen, Alten, Behinderten, Kranken etc. arbeiten und uns für die Interessen von allen Menschen in Notlagen einsetzen. Die Forderung, den sozialen Wohnungsbau zu beleben, gehört auch dazu. Zum anderen beschäftigt mich, wie leicht sich viele in ihrer berechtigten Enttäuschung für Parteien gewinnen lassen, die sich schwer damit tun, soziale Sachthemen sachlich zu diskutieren, sondern mit rassistischer, auch antisemitischer Feindseligkeit unterwegs sind und ein demokratiefeindliches Süppchen kochen.
Teilhabe in der Nachbarschaft
Auch wenn die Gespräche schwierig sein werden: Die Unerhörten, die Wütenden, die Protestwählerinnen und -wähler gehören zu uns. Auch wenn wir uns gegenseitig nicht leiden können, wir leben gemeinsam in diesem Land: Der hasserfüllte Rentner hat ein Recht auf bezahlbaren Wohnraum in unserer Offenen Gesellschaft, genauso wie der Berliner Hipster oder die geflüchtete Familie. Wenn wir die Teilhabe aller besser organisiert bekommen, erledigt sich bei vielen vermutlich der Hass.
Am 16. Juni 2018 können Sie auch darüber diskutieren, wie sich dieses Ziel in Ihrer Nachbarschaft besser erreichen lässt. Das geht in einer offenen Gesellschaft der Teilhabe und Mitwirkung vieler sehr verschiedener Menschen – ohne Mauern im Kopf und ohne Zäune um unser Land. Damit geben wir auch den Widerständlern des 17. Juni 1953 die Ehre – und der Mehrheit in diesem Land ein Gesicht. Seien Sie am 16. Juni, am Tag der Offenen Gesellschaft, dabei und bringen Sie Ihre Nachbarn und Freundinnen mit! Am Sonntag feiern dann die einen den letzten Tag des Zuckerfestes, andere einen Gottesdienst und gemeinsam werden wir Fußball gucken und „unsere Jungs“ anfeuern, die so wunderbar unterschiedliche Namen tragen.