Soziales Europa – gerade jetzt

„Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ Die Bundesregierung hat sich viel vorgenommen, wenn sie am 1. Juli unter dieser plakativen Überschrift die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Nehmen wir dieses schöne Werbemotto doch einmal ernst – als Maßstab für eine erfolgreiche Europapolitik.

Die Diakonie weist mit ihren europäischen Partnern seit Jahren darauf hin, dass ein starkes Europa nachhaltig nur gelingen kann, wenn es eine europäische Sozialpolitik gibt, die diesen Namen auch verdient.

Ich meine, hier voranzukommen muss gerade unter dem Zeichen von Corona eine hohe Priorität haben.

„Der Arbeiterstrich“ in der  Dortmunder Mallinckrodtstraße. In der Industrie und auf dem Bau, im Logistik-, Hotel- und Gaststättengewerbe und in der Landwirtschaft sind EU-Bürger*innen unter teils skandalösen Bedingungen und zu Niedrigstlöhnen beschäftigt. Foto: epd-Bild/Friedrich Stark

Vergrößerungsglas Corona

Denn die Corona-Krise zeigt wie im Blick durch ein Vergrößerungsglas, wo die ungelösten strukturellen und sozialen Probleme in Deutschland und Europa liegen. Hier geht es nicht um hehre Reden, sondern um die konkrete Beseitigung konkreter Missstände. Also um eine Politik, die das Leben vieler endlich verbessert und ihnen Wege aus der Armut eröffnet.

Corona hilft uns, klarer zu sehen. Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Fall Tönnies und der sozialpolitischen Agenda in Europa. Der neuerliche Lockdown in den Kreisen Gütersloh und Warendorf wäre  ja vermeidbar gewesen.

Gütersloh und Europa

Die EU hätte in den zurückliegenden Jahren nur dafür sorgen müssen, den auch von der Diakonie schon lange kritisierten und allseits bekannten Schatten der Freizügigkeit auszuleuchten und den menschenunwürdigen Arbeitsverhältnissen im Niedriglohnsektor in Europa ein Ende zu setzen. Doch das ist nicht geschehen, und nun müssen alle Menschen in Gütersloh und Warendorf in kollektiver Gesamthaftung die Konsequenzen tragen.

Und der Fall Tönnies, über den jetzt alle sprechen, ist ja nur ein Beispiel von viel zu vielen anderen – nicht nur in der Fleischindustrie. Vor wenigen Wochen hatten es die Spargelhöfe schon in die Schlagzeilen geschafft. Oder die privat engagierten Pflegekräfte aus Osteuropa, die wegen der Pandemie aktuell nicht mehr kommen können.

Die Ausbeutung von Niedriglohnbeschäftigten in der EU stellt ein drängendes Problem in vielen Branchen dar – in der Industrie und auf dem Bau, in der Landwirtschaft, der Logistik, im Hotel-und Gaststättengewerbe und bei der sogenannten „Live-in care“- Betreuung im privaten Bereich.

Lebensstil der Ausbeutung

Der so geschätzte und oft beschworene Lebensstil der Mehrheitsgesellschaft basiert auch in Deutschland darauf, dass Europa Rahmenbedingungen zulässt, die die Ausbeutung anderer Menschen in Kauf nehmen.

Das ist eine Folge von zu viel Marktgläubigkeit auch in Europa, das endlich auch soziale Standards und Standards in den Arbeitsbedingungen setzen muss, wenn es ein Europa für alle sein möchte.

Welche erschreckenden Folgen solche Marktgläubigkeit anrichtet, erleben wir in der Diakonie dann in den niedrigschwelligen Angeboten der Bahnhofsmissionen, in der Wohnungslosenarbeit, in den anonymen medizinischen Ambulanzen und in vielen anderen Beratungsstellen.

Hier begegnen uns abgekämpfte, oft kranke und sehr tapfere Männer, Frauen und auch Kinder aus anderen EU-Ländern, die von unserer Gesellschaft benutzt werden, um unangenehme, schlecht bezahlte, harte Arbeit zu erledigen – ohne sie im Geringsten abzusichern.

Im Gegenteil, diese Menschen werden in der Bevölkerung oft noch als Sozialstaatsschmarotzer beschimpft.

Schattenseiten der Freizügigkeit

Auch das ist Europa. In den Schattenseiten der Freizügigkeit liegt der sogenannte „Arbeitsstrich“ (Foto), auf dem Menschen sich zu unwürdigen Bedingungen und ohne jede Absicherung als Billiglöhner verkaufen. Das muss sich endlich ändern!

Dafür setzt sich die Diakonie  auch in Brüssel und Straßburg ein. Es geht auch hier – wie in der Migrationspolitik – um Menschenrechte, für die Europa eigentlich steht, die es sich aber zu oft so wenig wie möglich kosten lassen will.

Es ist ein seit langem hingenommener europäischer Skandal, dass Menschen aus anderen EU-Ländern in Deutschland sehr hart arbeiten müssen, unter extrem schlechten Arbeits- und Wohnbedingungen leiden und von Sozialleistungen und arbeitsrechtlichen Standards ausgenommen werden.

Soziale EU-Standards

Insofern begrüßt die Diakonie sehr, dass Bundesarbeitsminister Hubertus Heil angekündigt hat, Werkverträge in der Fleischindustrie zu verbieten. Aber das kann nur ein erster Schritt sein.

Auch andere betroffene Branchen müssen auf – derzeit legale – Arbeitsausbeutung hin überprüft werden. Und das nicht nur in Deutschland. Die Diakonie Deutschland fordert seit Jahren eine EU-weite Anpassung der sozialen Standards, eine strenge Überwachung der Verwendung von Leiharbeit und Entsendung sowie die sozialrechtliche Gleichstellung aller Unionsbürger*innen. Viel zu langsam ging es bislang voran.

Corona und Solidarität

Wenn wir in Folge der Corona-Pandemie hier endlich weiterkämen, wäre das tatsächlich ein großer Gewinn. Der Vorschlag der EU-Kommission für einen Wiederaufbauplan für Europa geht jedenfalls in die richtige Richtung. Er lebt europäische Solidarität und zielt darauf, ein gemeinsames Investitionsprogramm zu schaffen.

In Zeiten, in denen die sozialen Unterschiede in und zwischen den EU-Mitgliedstaaten zuzunehmen drohen, braucht es mehr sozial innovative Investitionen und mehr Unterstützungsmaßnahmen für sozial benachteiligte Menschen. Das wäre ein überzeugender Schritt hin zu einem gemeinsamen Europa.

Darum erwarten wir auch, dass sich die deutsche EU-Ratspräsidentschaft bei den Verhandlungen im Rat dafür einsetzt, dass der Europäische Sozialfonds (ESF) mindestens auf dem Niveau des Kommissionsvorschlages von 2018 beibehalten wird.

Werte revitalisieren

Aber es geht nicht nur um Geld. Es geht auch hier um nichts weniger als darum, die gemeinsamen europäischen Werte zu revitalisieren. Wir brauchen starke Signale gegen egoistische Nationalismen, die die europäische Integration mehr und mehr in Frage stellen, selbst aber keine Alternativen anbieten. Insofern ist „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ wirklich ein gutes Motto.

Als Diakonie sind wir überzeugt, dass eine starke und vertiefte europäische Sozialpolitik zugunsten aller Menschen ein Gegengewicht zu den plumpen unzweideutigen Siegesversprechen des Populismus sein kann und muss.

Denn: Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es keine legitimierte europäische Integration im gemeinsamen Binnenmarkt. Und ohne europäische Integration gibt es keine Gerechtigkeit, sondern immer wieder nur Ausbeutung der Schwachen durch die wirtschaftlich Starken.

Hohe Erwartungen

2017 hat die EU-Kommission sich endlich auf die europäische Säule sozialer Rechte verständigt und damit auch wichtigen Forderungen der Diakonie eine Adresse gegeben.

Zur Erinnerung: Zweck der „sozialen Säule“ ist die Bereitstellung neuer und wirksamerer Rechte für Bürgerinnen und Bürger. Sie baut auf 20 Grundsätzen auf, welche in drei Kategorien eingeordnet sind: Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, Faire Arbeitsbedingungen, Sozialschutz und soziale Inklusion.

Hier haben wir, gerade in Corona-Zeiten, hohe Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft: Wann, wenn nicht jetzt, ist es an der Zeit, die europäischen Mindeststandards für nationale Grundsicherungssysteme voranzubringen? Dabei bedarf es einer gesetzlichen Regelung in Form einer EU-Richtlinie und nicht nur politische Absichtserklärungen.

Tragende Säule

Eine Säule ist nur ein lotrechter freistehender Pfeiler. Mehrere Säulen können ein Gewölbe oder Arkaden eines Gebäudes tragen und dabei teilweise oder ganz die Wände ersetzen. Sie können jedoch auch nur der Dekoration dienen.

Ob die europäischen Säule sozialer Rechte eine wirklich tragende Funktion in Europa bekommen wird – auch das liegt in der Mitverantwortung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. In der Diakonie in Europa findet sie dafür eine verlässliche Mitstreiterin.