Minister Seehofers Ordnungssinn

Ordnung und Humanität“ gehören für Bundesinnenminister Horst Seehofer in der Migrationspolitik zusammen – aber nur in dieser Reihenfolge! Wehe, jemand bringt die Ordnung durcheinander und setzt die Humanität an die erste Stelle. Das stört das persönliche Rechtsempfinden nicht nur Seehofers, sondern all derer, die mit den Brüchen des wirklichen Lebens nur schwer zurechtkommen.

40. 000 Flüchtlinge hausen zum Teil seit Jahren auf den Ägäisinseln unter unerträglichen Bedingungen. Foto: epd-Bild/Jörn Neumann

Ordnung sticht Humanität, das ist das Credo einer leblosen Politik, die Wirklichkeit ausblendet anstatt sie zu gestalten. Menschliches Leid, leider auch das Leid, das sich lindern ließe, muss sich hinten anstellen. Ganz hinten. Gemeinsam mit denen, die gerne helfen wollen. Ordnung geht v o r Humanität.

Humanität stört

Derzeit „stören“ bekanntermaßen eine Reihe von Kommunen und die Regierungen von Berlin und Thüringen diesen überzogenen Ordnungssinn. Denn sie nehmen das Gebot der Humanität ernst. Freiwillig wollen sie einige Hundert besonders schutzbedürftige Menschen mehr aufnehmen, als der Bund von ihnen erwartet und ihnen in seinem Ordnungssinn zugestanden hat.

Mehr Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren, Schwangere, alleinstehende Mütter sowie schwer erkrankte und traumatisierte Menschen, die derzeit auf den Ägäisinseln unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen. Und ordnungsgemäß haben die Bundesländer den Bundesinnenminister von diesem Vorhaben wissen lassen.

Ordnung geht vor

Das war ein guter Plan, doch daraus wird jetzt erstmal nichts. Denn der Bundesinnenminister hat dieser humanitären Hilfsbereitschaft einen Riegel vorgeschoben. Die Menschen in den Lagern können noch eine Weile aushalten, findet Seehofer. Ordnung geht eben vor. Was für ein Armutszeugnis für die Politik und ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich dafür einsetzen, die Menschen in Griechenland endlich aus den desaströsen Zuständen zu erlösen.

Zur Erinnerung: 40.000 Geflüchtete befinden sich derzeit auf den Inseln in der Ägäis. Etwa im Lager Moria auf Lesbos, das für 3.000 Personen geplant wurde und in dem inzwischen etwa 14.000 Menschen unter erbärmlichsten und hygienisch katastrophalen Bedingungen überleben müssen und hilflos darauf warten, dass das Coronavirus bei ihnen ankommen wird.

Menschenfeindliches Europa

Unter ihnen sind, um es etwas anschaulicher zu machen, auch ältere Herren wie Herr Seehofer oder ich und erschöpfte junge Frauen, die unsere Töchter sein könnten, mit unseren Enkelkindern. Da wächst eine Generation heran, für die Angst, Hoffnungslosigkeit und die Erfahrung, im Stich gelassen zu werden, die Grundierung des Lebens sein wird. Europa – das ist von Moria aus gesehen Politik gewordene Menschenfeindlichkeit.

Horst Seehofer begründet sein Veto auch mit dem „schwierigen Weg zu einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik“, die keine nationalen Alleingänge vertrage. Ich verstehe, dass der Bundesregierung während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Zurückhaltung auferlegt ist, wenn es gilt „das große Ganze“ im Blick zu behalten. Aber solche Überlegungen dürfen Humanitäre Gesten (um mehr geht es ja nicht!) nicht torpedieren. Die Zustände in Moria sind eine schreiende Anklage gegen eine abgestumpfte europäische Zivilisation.

Humanitäre Chance

Nicht nur Thüringen und Berlin, auch andere Bundesländer und über 150 Kommunen signalisieren seit geraumer Zeit, dass sie genug Kapazitäten und den politischen Willen zur Aufnahme von mehreren tausend Asylsuchenden von den griechischen Inseln haben. Damit das Leben für sie menschenwürdig weitergehen und ihr Asylgesuch geprüft werden kann.

Es ist eine unschätzbar kostbare humanitäre Chance für Tausende an Leib und Seele verletzte Menschen, dass so viele Kommunen und Bundesländer und so viele zur Unterstützung und Begleitung bereite Menschen in unserem Land freiwillig Verantwortung übernehmen wollen.

So wird Humanität u n d Ordnung gelebt. Hier lebt der Geist, für den die europäischen Werte stehen. Und es ist beschämend und grotesk, dass diese Hilfsbereitschaft aus formellen Gründen ins Leere laufen soll.

Kooperation gelingt

Dass Bund und Länder gut zusammenarbeiten können, wenn es darauf ankommt, wurde durch die Aufnahme von 243 kranken Kindern und Jugendlichen und ihren Familien im Juli und August bereits bewiesen. Insgesamt kamen im Rahmen der europäischen Hilfsaktion für besonders Schutzbedürftige 928 Personen nach Deutschland.

Dieses Bundesprogramm im Rahmen der europäischen Hilfsaktion ist gut gemeint, aber natürlich nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Es könnte jetzt ausgeweitet werden, weil sich so viele Länder und Kommunen freiwillig beteiligen wollen. Weil sie Kapazitäten, haben zu helfen – ohne „die Ordnung“ zu gefährden. Im Gegenteil: Was für eine Chance für eine erfolgreiche Integration dieser Menschen.

Europa von unten

Es ist kein problematischer „nationaler Alleingang“, wenn einige Bundesländer mehr Asylsuchende aus Griechenland aufnehmen. Es ist Europa „von unten“. Ein Dutzend EU-Staaten praktiziert derzeit dasselbe, ausgehend von einer deutsch-französischen Initiative. Die Menschen in den Lagern brauchen unsere Hilfe nun so schnell wie möglich und können nicht auf einen ungewissen Durchbruch in den Verhandlungen zu einem gemeinsamen EU-Asylsystem in einigen Monaten warten.

In Geiselhaft

Aber Horst Seehofer setzt zuerst auf Ordnung. Für ihn, den christlich-sozialen Politiker, ist „unsere Migrationspolitik wieder im Gleichgewicht“. Dass sie ohne Not ein mögliches Mehr an Humanität verhindert und die hilflosen und verzweifelten Menschen auf den Ägäisinseln in Geiselhaft nimmt, stört dieses Gleichgewicht in seinen Augen nicht. Das ist ganz kleines Karo und beschämend.