Die Lehren des Lockdowns

Baden, Württemberg, Bayern, Sachsen. Fast 2000 Kilometer sind wir in dieser Woche schon gefahren. Heute geht es nach Niedersachsen. Es ist der letzte Tag meiner Sommerreise zu Diakonie-Einrichtungen, die besonders schlimm unter der Corona-Pandemie und dem Lockdown gelitten haben.

Zuhören: Elfriede Kretzscher (94) erzählt Ulrich Lilie von ihren Lockdown-Erfahrungen im Betlehemstift  Zwönitz. Foto: Diakonie/Cathleen Heine

Ich bin im Innersten bewegt und berührt von den Berichten und den zum Teil sehr persönlichen Erfahrungen der Mitarbeitenden in Kliniken, Pflegediensten, Werkstätten oder Wohnheimen. Und ich bin sehr stolz auf diese wunderbaren und hoch engagierten Menschen unterm Dach der Diakonie, die freiwillig, sogar unter Gefährdung der eigenen Gesundheit, oft weit über ihre normalen Leistungsgrenzen hinausgegangen sind:

Kreativität und Erschöpfung

Da berichtet der Leiter eines Altenheims in einem Dorf in Bayern mit immer wieder stockender Stimme, wie sie im Team Tag und Nacht bis zur Erschöpfung um jede Bewohnerin und jeden Bewohner gekämpft haben, aber eben doch nicht alle vor dem Virus retten konnten.

Die Leiterin einer Bahnhofsmission schildert die Wochen des Lockdowns, in denen sich die Obdachlosen in ihrer Stadt nur noch im Fluss waschen konnten, weil alle öffentlichen Einrichtungen geschlossen waren und auch überall sonst die Schotten einfach dichtgemacht wurden. Mit einer Handvoll studentischer Ehrenamtlicher gelang es ihr in diesen Tagen, wenigstens die Essensversorgung notdürftig zu sichern.

Aussichtsloser Kampf

Oder der Pflegedienstleiter einer Klinik, der sich in einen schier end- und aussichtslosen Kampf um Schutzmasken und -kittel warf. Bis heute verfolge ihn ein beschämendes Gefühl, weil er seine Mitarbeitenden und die Patienten nicht optimal schützen konnte – einfach, weil weit und breit und über eine schier endlos erscheinende Zeit kein Material aufzutreiben war.

Andere erlebten Anfeindungen in ihrer Nachbarschaft, wenn sie nach der Schicht in der Alten-Wohngruppe erschöpft nach Hause kamen: „Na, kommst Du aus dem Todeshaus?“

Das sind Erfahrungen aus Deutschland, die gehört und gewürdigt werden müssen – von der Politik, von den Medien, von uns allen. Aber nicht nur das: Dieses Zuhören muss jetzt auch Folgen haben.

Flächendeckende Planlosigkeit

Denn es sind Geschichten vom Gefühl des Alleingelassen-Seins, des Nicht- gehört-Werdens. Von flächendeckender, erschreckender Hilflosigkeit und Planlosigkeit der Behörden – gerade in den ersten Wochen. Von täglich neuen und sich häufig widersprechenden Vorgaben von Gesundheitsämtern, Landratsämtern und medizinischen Diensten, die nicht erreichbar waren oder keine Tests zuließen.

Ich habe viele Geschichten über Persönlichkeiten gehört, die im Gesundheitswesen oder in der lokalen Politik Verantwortung tragen, aber in den ersten Krisenmonaten vor allem darauf bedacht waren, die eigene Haut zu retten. Die auf Abstand gingen zu den Männern und Frauen, die tagtäglich ohne Schutz an vorderster Front gegen das Virus anzukämpfen hatten und haben:

Alleingelassen in der Krise

„Keiner war zu erreichen! Die hatten gar keinen Plan! Weder die Ärzt*innen noch Seelsorger*innen haben sich bei uns blicken lassen. Wir waren ganz auf uns gestellt.“ Solche bitteren und immer noch fassungslosen Sätze habe ich fast in jedem Gespräch gehört. Und ich frage mich, wo bleibt die systematische Auswertung dieser wichtigen Erfahrungen der Monate März, April und Mai?

Wie wollen wir ohne ehrliche Bestandsaufnahme eigentlich den Herbst und den Winter bewältigen, wenn neben dem Corona-Virus auch noch die Grippe-Viren durch das Land und unsere Einrichtungen geistern?

Stille Held*innen

Überall – nicht nur in der Diakonie – sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über sich hinausgewachsen und zusammengewachsen. Da ist der Lehrer in der geschlossenen Behindertenwerkstatt, der stattdessen selbstverständlich zum Meister im Brötchenschmieren in der Wohngruppe wird, um seine Kolleg*innen zu entlasten.

Da ist die Mitarbeiterin im ambulanten Pflegedienst, die sich tagtäglich über Wochen für bis zu acht Stunden in den einen Corona-Schutzanzug zwängte, den sie nicht ausziehen konnte, weil es keinen Ersatz gab: „Ich durfte nur ganz wenig trinken, weil ich nicht auf die Toilette gehen konnte.“

Es ließen sich Bücher füllen mit diesen Diakonie-Geschichten voller Engagement, Improvisationstalent und tiefem Verantwortungsbewusstsein für die uns anvertrauten Menschen.

Aus Erfahrung lernen

Ja, auch viele Politikerinnen und Politiker haben in den zurückliegenden Wochen und Monaten viel geleistet und viel richtig gemacht – aber ohne den Einsatz der vielen rund um die Uhr engagierten Mitarbeitenden in der Pflege, im Gesundheitswesen, in den Beratungsstellen, der Kinder- und Jugendhilfe oder der Arbeit mit Wohnungslosen wären wir heute in einer völlig anderen, viel schlimmeren Situation.

In jedem Fall müssen diese Menschen und ihre Erfahrungen jetzt gehört werden, damit die richtigen politischen Schlussfolgerungen aus der heißen Corona-Phase gezogen werden. Denn ein solches Chaos darf im deutschen Gesundheitssystem nie wieder ausbrechen:

Was nicht geht

Es geht nicht, dass die Versorgung mit überlebenswichtiger Schutzausrüstung binnen Tagen auf Messers Schneide steht oder komplett zusammenbricht, weil der Hersteller in Indien oder China nicht mehr liefern kann oder darf. Hier übersteigt die Globalisierung, die Hatz nach immer preiswerterer Produktion, jedes vernünftige Maß und wird zum Irrsinn.

Es geht nicht, dass Gesundheitsbehörden, selbst jahrelang krank gespart, mit herrschaftlicher Geste aber bescheidenem Ergebnis agieren. So wurde mancherorts wochenlang nicht oder kaum getestet und wenn doch, dauerte es Tage, manchmal Wochen bis zu einem Ergebnis. Aber so lässt sich bei einem Infektionsverdacht in der Belegschaft einer geronto-psychiatrischen Einrichtung nicht einmal ein Notbetrieb sichern. Politik- und Behördenversagen können auch tödliche Folgen haben.

Tödliche Folgen

Auch die vielen, sich häufig auch noch widersprechenden, Arbeitsschutzvorschriften, einmal vom Bund, dann vom Land oder Kreis und auch noch von den Berufsgenossenschaften, machen keinen Sinn, wenn schnell und sicher versorgt werden muss. Warum fehlen hier bis heute einheitliche Regeln und eine abgestimmte Koordination der Behörden untereinander?

Und last but not least: Das Engagement der Mitarbeitenden im Kampf gegen Corona war überall groß und hat darum auch dieselbe gesellschaftliche Wertschätzung verdient – und zwar in allen Einrichtungen, egal ob Pflegeheim, Krankenhaus, ambulanter Pflegedienst oder Behinderteneinrichtung.

Pflegereform und Rettungsschirm

Und natürlich darf und muss sich die Wertschätzung auch in Geld ausdrücken, aber bitte nicht in einer Pflegeprämie für nur einige wenige, während andere, die genauso hart gearbeitet haben wie ihre Kolleg*innen in den Altenpflegeeinrichtungen, in die Röhre gucken.

Hier hat die Politik aus der Pflegeprämie eine Neidprämie gemacht. Das sind Schnellschüsse mit Folgen: Politik, die so vordergründig agiert, nur um eine Debatte über eine grundlegende Pflegereform abzuwürgen, verfehlt die vielleicht gutgemeinte Wirkung. Das spaltet und es frustriert viele hoch engagierte Mitarbeitende in anderen „systemrelevanten“ Handlungsfeldern.

Wie geht es weiter?

Außerdem: All die Einrichtungen, die als gemeinwohlorientierte oder gemeinnützige Akteure wegen Corona in große finanzielle Not geraten sind oder zu geraten drohen, brauchen nun Planungssicherheit über den Herbst hinaus. Denn der Rettungsschirm für die Sozialwirtschaft läuft momentan zum 30. September aus. Wie geht es weiter?

Die stillen Heldinnen und Helden in Pflege und Betreuung haben handfeste und praxistaugliche Antworten verdient. Glaubwürdige Politik ist nie Selbstzweck und auch kein Karrieresprungbrett für solche, die sich allzu wichtig nehmen. Sondern sie muss im Dialog mit den Menschen, die wichtige Erfahrungen gesammelt haben, echte Lösungen für echte Probleme finden.

Von Wolfsburg lernen

Heute, zum Abschluss der Sommerreise, besuche ich das Hans Lilje-Heim in Wolfsburg, in dem überwiegend demenzkranke Menschen leben. Zu Beginn der Krise waren es 165 Bewohner. Zwischenzeitlich waren 111 erkrankt, fast ein Viertel ist gestorben. Und auch über vierzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter litten an einer Covid-19-Infektion. Auch sie werden viel zu erzählen haben, und wir sollten ihre Erfahrungen ernstnehmen. Damit unser aller Leben mit Corona erträglicher wird.