Dem aktuelle Pandemie-Krisenmanagement fehlt ein Sinn für die Bedeutung von Gefühlen. Etwa für die psychosozialen Folgen von Isolations- und Quarantänemaßnahmen. Das muss sich ändern, und darum müssen wir im Covid 19-Kontext tatsächlich auch mehr über die Rolle von Gefühlen wissen und öffentlich sprechen: in der Diakonie, in Kirche, Politik und Zivilgesellschaft.
Denn nicht nur das neuartige Coronavirus verbreitet sich hoch infektiös, auch Einsamkeit und Erschöpfung, Trauer, Ängstlichkeit, Verzweiflung und Wut gehen viral. Mit schwerwiegenden Folgen für die einzelnen Menschen und für das öffentliche Leben.
Über Gefühle reden
Wir erleben die Folgen des öffentlich Unbesprochenen und Unbearbeiteten derzeit landauf landab bei lautstarken Demonstrationen und zum Teil gewalttätigen Reaktionen auf Maskenpflicht und Corona-Verordnungen. Wieviel Wut bricht sich hier Bahn! Erschreckend und nicht hinnehmbar, zum Teil vergiftet mit Verschwörungsdemagogie, aber eigentlich nicht überraschend.
Jedenfalls für alle, die wissen, dass Wut eine klassisch beschriebene Reaktion in einem Trauerprozess ist. Und unsere Gesellschaft hat gerade sehr viel zu betrauern: Den kollektiven Verlust des „alten Lebens“ und der vertrauten Gewohnheiten. Das ist ein sozialpsychologisches und seelsorgerliches Problem von nicht zu überschätzendem Ausmaß:
Gesellschaft in Trauer
Geliebte Menschen sind gestorben, Existenzen wurden vernichtet, Ohnmachtserfahrungen der Helfenden waren an der Tagesordnung, Zukunftspläne mussten aufgegeben werden, menschliches Miteinander war über Monate stark eingeschränkt und muss auch weiterhin reglementiert werden. Dann wieder wurden Familien in ungewohnte Nähe gezwungen.
Die Gewohnheiten und Annehmlichkeiten einer pandemiefreien Gesellschaft mit ihren Festen und Festivals, Reisen und Events – Vergangenheit. Und in näherer Zukunft wird sich daran vermutlich nicht viel ändern. Sie bleibt ungewiß.
Eine breite Debatte über eine „menschengerechte“ Eindämmung des wiederkehrenden Virus – das ist darum ein echte Notwendigkeit. Unabhängig davon, ob es eine große zweite Welle geben wird oder viele kleine, regional begrenzte: Der emotionale Stress, den die Pandemiebekämpfung in unser Leben trägt, bleibt uns in jedem Fall erhalten. Wir sollten das beim Finden der richtigen Balance von Schutz und Teilhabe besser berücksichtigen.
Vom Lockdown-Leid lernen
Insbesondere verdienen die ersten Erkenntnisse über die psychosozialen Folgen von Corona eine zügige systematische Auswertung oder wenigstens einen organisierteren Erfahrungsaustausch. Denn nur so können wir aus dem Lockdown-Leid der ersten heißen Covid 19-Phase lernen. Das ist dringend nötig, wenn wir besser durch den bevorstehenden Corona-Winter kommen wollen.
Es geht nun darum, eine fachlich und politisch vertretbare Balance aus Schutz vor dem Virus und gleichzeitigem Bemühen um Teilhabe und Gemeinschaft zu finden.
Als Diakonie-Präsident denke ich dabei zuerst an die Menschen, die in unseren Häusern leben und arbeiten, an die, die wir in ihrem häuslichen Umfeld begleiten – und an ihre Angehörige.
Alten- und Pflegeheime, Krankenhäuser und Hospize, aber auch Einrichtungen für Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen sowie Wohngruppen der Jugendhilfe waren besonders betroffen von Lockdown und Isolation:
Wenn Schutz zur Qual wird
Zum einen von der Angst vor der Infektion, von den Schwierigkeiten unter Coronabedingungen ohne angemessene Schutzkleidung bis über die Erschöpfungsgrenze hinaus zu arbeiten. Zum anderen auch von der Unsicherheit, die viele der beschützenden Maßnahmen begleitete. Besonders aber auch von dem Erleben, dass der gut gemeinte Schutz zur Qual werden kann:
„Als ihre Kinder und Enkelkinder nicht mehr kamen, hörte sie einfach auf zu essen“, so schilderte mir die Mitarbeiterin einer Pflegeeinrichtung, die ich auf meiner Sommerreise besucht habe, mit fassungsloser Stimme den Tod einer hochaltrigen Dame, die sie seit Jahren begleitete. Tod aus Einsamkeit?
Gezeichnete Gesichter
Ich habe auf meiner Sommerreise viele solche und ähnliche Geschichten gehört, in viele immer noch erschöpfte, ja geradezu gezeichnete Gesichter der Mitarbeitenden gesehen und verstanden: „Das schaffen wir nicht nochmal.“
„Man hat uns allein gelassen“, das war das traurige Fazit, das in allen besuchten Bundesländern gezogen wurden. Daraus Konsequenzen zu ziehen, ist nun unverzichtbar. Das rät übrigens auch das Kompetenznetz Public Health zu COVID-19.
Über 25 wissenschaftlichen Fachgesellschaften aus dem Bereich Öffentlicher Gesundheit sind hier zusammengeschlossen. Ihr Ziel: Die methodische, epidemiologische, statistische, sozialwissenschaftliche und (bevölkerungs-)medizinische Fachkenntnis zu bündeln und zur Verfügung zu stellen. Gemeinsam vertreten sie mehrere Tausend Wissenschaftler*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Folgen der Quarantäne
Hier wird wissenschaftlich fundiert gezeigt, dass auch notwendige Isolations- und Quarantänemaßnahmen belegbar negative Folgen für die psychosoziale Gesundheit haben. Und zwar für alle beteiligten Menschen – nicht nur für die Erkrankten oder die sogenannten vulnerablen Gruppen, sondern auch für deren Angehörigen und die Mitarbeitenden.
Zu den ersten nachweisbaren Folgen gehören erhöhte Depressivität, Ängstlichkeit, posttraumatische Belastung, Wut, Stresserleben und Einsamkeit. Und zum Teil, so die Forscher*innen, zeigen sich diese Phänomene erst Monate später. Es kommt also noch eine Menge auf unsere Gesellschaft zu – an zutiefst menschlichem Empfinden und an zeitverschobenen sozialpsychologische Folgen. Das sollte jetzt bedacht und begleitet werden.
Isolation mildern
„Flatten the curve“, die Infektionszahlen zu senken, war in Deutschland ein Erfolg – auch dank des Lockdowns und der strengen Kontaktverbote. Aber damals war die Gesellschaft unvorbereitet. Das „Ganz oder gar nicht“, war auch aus der Unsicherheit geboren. Das sollte und kann nun anders gestaltet werden und anders aussehen.
Zuverlässige Information über Hygiene, über die Art, wie sich Covid 19 ausbreitet, sind inzwischen leicht zu bekommen. Wenn die Abstand- und Hygieneregeln eingehalten werden, wenn die Mund-Nasen-Bedeckung sich weiter etabliert, wenn wir gemeinsam lernen die Palette von analogen und digitalen Begegnungsmöglichkeiten während einer Quarantäne wirklich zu nutzen, könnten die psychosozialen Folgen der Pandemie wenigstens gemildert werden.
Es gibt gute Beispiele: BesuchskoordinatorInnen, Begegnungszonen, Brieffreundschaften, Besuchsspaziergänge und kulturelle Veranstaltungen auf Distanz und vieles anderes andere mehr an kreativen und bewährten Ideen.
Runde Tische zu Corona
Auch darum wünsche ich mir noch viel mehr runde Tische zu Corona und den psychosozialen Folgen. Oder andere Foren des organisierten Austauschs. Nicht nur in Diakonischen Einrichtungen oder Kirchengemeinden, wo es auch eine Antwort auf die Frage zu finden gilt, wie Dienstgemeinschaft unter Corona-Bedingungen gelebt werden kann. Sondern eben auch im Quartier, in der Kommune oder auf (Kirchen-)Kreisebene.
Immer mit dem Ziel, voneinander zu lernen und sich gemeinsam auf die kommenden Monate vorzubereiten. Und den Seelen der Menschen gerecht zu werden.
Erschütterte Seelen
Denn Covid 19 und die Folgen erschüttern die Seelen von Menschen tief. Es wäre uns allen zu wünschen, dass unsere Seelen im politischen Handeln, im gemeinsamen Planen des zukünftigen Corona-Alltags eine wichtigere Rolle spielen. Alles andere wäre unprofessionell – und unmenschlich.