30 Jahre Deutsche Einheit. Morgen werde ich beim diesjährigen Festakt in Potsdam mitfeiern können. Und wie in jedem Jahr werden auch persönliche Erinnerungen an diese Zeit in meinem Leben wach. Es wächst eben nicht von selbst zusammen, was zusammengehört, wie Willy Brandt es 1989 in Berlin für die Geschichtsbücher formuliert hat.
Jedenfalls nicht so einfach. Einfach ist wenig in diesem oft mühsamen Einheitsprozess. Die bis heute geführten wichtigen Debatten um gleichwertige Lebensverhältnisse, über die Angleichung der Löhne oder das Fehlen ostdeutscher Persönlichkeiten in den Chefetagen der Republik zeigen es.
Dringliche Fragen
Doch diese weiterhin notwendigen Ost-West Debatten werden zunehmend von ganz anderen Fragen überlagert, deren Dringlichkeit nicht mehr zu übersehen ist. Auch wenn es keine abschließenden Antworten geben kann: Was für ein (Deutsch-)Land wollen wir in den nächsten zehn Jahren werden, hier im Herzen Europas?
Wollen und werden wir bei der rapide zunehmenden Vielfalt überhaupt zu einem „Wir“ zusammenwachsen? Und an welchen Werten, an welchen Erinnerungen und Narrativen soll sich dieses Wir orientieren?
Deutschland ist bereits heute kulturell, sozial, religiös, ethnisch und ökonomisch viel vielschichtiger und facettenreicher als die bipolaren Kategorien und Perspektiven „Ost“ oder „West“ einzufangen vermögen. Ist Verfassungspatriotismus wirklich die zündende, Zugehörigkeit stiftende Idee?
Vor dreißig Jahren
Aber zurück zu den Erinnerungen vor 30 Jahren: Ich lebte in den Jahren um 1990 ganz im Westen der Republik. Im Saarland, wo ich nahe der französischen Grenze erste Berufserfahrungen als junger Pfarrer sammelte. Eine spannende Zeit für mich – privat, beruflich und natürlich auch politisch. Und da liegt ein Problem. Denn genau diese Reihenfolge, „privat, beruflich, politisch“, unterscheidet die allermeisten Ost- und West-Familiengeschichten bis heute grundlegend.
Familie Mustermann-West lebte 1989/90 einfach weiter geradeaus und hatte mit den gesellschaftlichen Erschütterungen der Familie Mustermann-Ost nichts oder nur wenig zu tun. Aus Karl-Marx-Stadt wurde Chemnitz, aber Köln blieb Köln. Während im Osten in den Neunzigerjahren für 16, 4 Millionen Menschen die alte Welt unterging, veränderte sich für viele im Westen der Alltag kaum.
Besserwessi und Rassismus
Die erweiterte Wetterkarte in den Fernsehnachrichten. Der Solidaritätszuschlag. Bei der Bundestagswahl 1990 wird die Regierung Kohl triumphal bestätigt. Wiedervereinigung, statt Wende. Als würden nur fünf Waggons an einen Zug gekoppelt, der einfach weiterfährt.
1991 heißt das Wort des Jahres dann „Besserwessi“. Im selben Jahr, nach den rassistischen Übergriffen in Hoyerswerda, wählt die Gesellschaft für Deutsche Sprache erstmals das Unwort des Jahres: „ausländerfrei“. Rostock und Mölln 1992 – die Anschläge und Ausschreitungen erschüttern West und Ost. Man spricht von „Fremdenfeindlichkeit“. Die Opfer gehörten nicht „zu uns“. So denken viele bis heute.
Vielfalt denken
Dabei sprang bereits damals viel zu kurz, wer Deutschland nicht vielfältig denken kann: Denn Deutschland ist nicht nur schon lange ein Einwanderungsland, sondern beheimatet inzwischen 80 Millionen Menschen mit den verschiedensten Lebensgeschichten und sehr unterschiedlichen Vorstellungen von einem guten Leben. Sie alle wollen hier Zuhause sein und hoffen auf eine Zukunft für sich und ihre Kinder.
Schon vor dreißig Jahren hätten diese Fragen hinter den Problemen andere politische Antworten verdient. Wenigstens eine Wahrnehmung der sich inzwischen mit großer Geschwindigkeit ausdifferenzierenden Vielfalt.
Eine aktuell vorgestellte, hoch interessante Studie der Bertelsmannstiftung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt nach 30 Jahren Deutsche Einheit trägt dieser heute noch viel sichtbareren Vielfalt in unserem Land in vorbildlicher Weise Rechnung.
Die Studie fragt West- und Ostdeutsche mit und ohne Migrationshintergrund unter anderem danach, worin die deutsche Einheit heute bestehe oder was den Zusammenhalt ausmache? Und sie versucht mit ihnen zu bestimmen, ob es gemeinsame Kriterien für das gibt, was von allen als „deutsch“ beschrieben wird.
Identität als Prozess
Mir gefällt ihr vielleicht nicht überraschendes Ergebnis, dass sich die Frage nach dem, was uns in Deutschland eint, eben nicht eindeutig und schon gar nicht abschließend beantworten lässt. Das offene Ergebnis dieser Studie spiegelt die Dynamik der aktuell mit großer Geschwindigkeit auseinanderstrebenden Entwicklungen in einer Gesellschaft der vielen Ichs.
Diese Vielen werden nicht dadurch zu einem Wir, weil sie einen geografischen Raum teilen und – wenn sie denn wahlberechtigt sind – eine neue Regierung wählen dürfen. Das (an-)zuerkennen, ist eine Stärke, keine Schwäche.
Identität ist in solchen Zeiten tiefer gesellschaftlicher Transformation nie etwas Feststehendes, Statisches. Viel eher ein Prozess mit durchaus unsicherem Ausgang. Sie muss neu ausgehandelt werden mit allen Menschen, die zu einem zukünftigen „Wir“ dazugehören sollen. Das ist die historische Einsicht nach dreißig Jahren Einheit.
Deutsche Bausteine
Vier Elemente identifiziert die Studie dann doch, die Ost- und Westdeutsche genauso wie Menschen mit Migrationshintergrund als deutsch beschreiben, trotz sehr unterschiedlicher Perspektiven und Deutungen: die deutsche Sprache, eine bestimmte Arbeits- und Leistungsmentalität, eine Geschichte, die von zwei Diktaturen geprägt wurde, aber in der auch „Dichter und Denker“ oder großartige Ingenieure eine wichtige Rolle spielen und nicht zuletzt die Solidargemeinschaft, den Sozialstaat.
Von „Bausteinen“ sprechen die Studienverantwortlichen vorsichtig. Suchend. Es wird lohnend sein, sich öffentlich über diese Bausteine auszutauschen, und sie im konstruktiv-kritischen Streit zu ergänzen. Etwa durch Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Nachhaltigkeit.
Wir müssen reden
Welche Bausteine bräuchte eine zukünftige Idee von Einheit in Deutschland noch, um als wirklich ansteckende und überzeugende Vision für das Zusammenleben der vielen Unterschiedlichen erblühen zu können?
Darüber sollten wir öffentlich sprechen und streiten – mit möglichst vielen Beteiligten. In Sportvereinen und Kirchengemeinden, in Volkshochschulen und Universitäten, auf Podien, am Familientisch und natürlich im Internet. Denn, was Deutschland eint, bestimmen wir gemeinsam. Nicht nur zum 3. Oktober.