Vielleicht können Sie den Satz, “Krisen sind Chancen”, mittlerweile auch nicht mehr hören. Mir geht es bisweilen so – mitten im Herbst-Lockdown, von dem noch keiner weiß, ob er eine neue Atempause bringt. Der emotionale Cocktail, an dem wir alle seit Monaten zu schlucken haben und den wir gesellschaftlich verkraften müssen, hat es in sich: Wut, Trauer, Angst, Unverständnis, Hoffnung, dazu sicher eine Prise Resignation. Mit Kalendersprüchen und einfachen Weisheiten ist meiner Gefühlwelt jedenfalls nicht mehr geholfen, während die zweite Corona-Infektionswelle mit Wucht über uns hereinbricht. Wie die meisten bin ich hin und her gerissen zwischen der Sorge um meine Liebsten, Gedanken an Freund*innen, die es gerade schwer haben und der Hoffnung auf einen Impfstoff, mit dem die Pandemie irgendwann ein Ende finden könnte. Corona befällt nicht nur unsere Körper, sondern droht auch unsere Seelen ernsthaft zu verletzen.
Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm hat Deutschland im Corona-Herbst 2020 jüngst “eine verwundete Gesellschaft” genannt. Wie recht er hat. Denn es zehrt und macht wund, dass die Statistiken der Infizierten, der Intensivflegepflichtigen und auch der Toten seit Wochen erneut wieder nur nach oben zeigen und schon wieder ein Freund oder eine Kollegin in Quarantäne muss. Testergebnis ungewiss. Normalerweise würden wir Menschen in so einer Lage ja eines tun: enger zusammenrücken. Stattdessen schwankt das Leben wie auf der Arche Noah. Es schwanken die Maßstäbe für Normalität, es schwankt die Gesellschaft zwischen Überforderung und Solidarität. Jeder und jede macht weiter, wie er oder sie noch kann und es die eigenen emotionalen Reserven noch hergeben. Und während die einen keinen Podcast ihres bevorzugten Virologen auslassen, rennen die anderen irren Wirrologen hinterher. Wie die etwas versessen wirkendenden Trommler ohne Maske vor dem Berliner Hauptbahnhof, die mir mit seligem Gesichtsausdruck zurufen: „Lass deine Angst einfach hinter Dir!“ Gemeinsam ist uns allen eines: Die sehnliche Hoffnung auf ein Ende von Unsicherheit und Zukunftsangst, von Trauer und Depression. Starke Gefühle.
Die gemeinsame Zukunftswerkstatt von Evangelischer Kirche und Diakonie – midi – wirft kommende Woche mit ihrer digitalen Tagung, “Das gefühlte Corona”, ein Schlaglicht auf die emotionale Dimension der Pandemie. Die schon nach wenigen Stunden überlaufene Veranstaltung kommt keinen Tag zu früh ( https://www.mi-di.de/termine/das-gefuehlte-corona). In einer Zeit, in der auch Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit und Verzweiflung viral gehen, spannt diese Tagung einen digitalen Raum auf – für menschliche Begegnungen, für vertieftes Verstehen, erste Deutungen und einen Austausch über gelungene Beispiele kirchlicher und diakonischer Kommunikationsangebote.
Den Hauptvortrag hält der renommierte Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx, der zuletzt vor allem durch sein Buch, „Die Zukunft nach Corona“, bekannt wurde. Matthias Horx meint, Ungewissheit und die damit notwendigerweise verbundenen Ängste können tatsächlich zu einem neuen Anfang werden. “In einer Krise gibt es ja immer zwei grundsätzliche Möglichkeiten: Paranoia, also Hysterie, oder Metanoia, Selbstveränderung”, sagt Horx: “Dann beginnt eine neue innere Ausrichtung. Die ist sehr individuell, es gibt also kein eindeutiges ‘wir’.” Ebenso gespannt bin ich auf den Beitrag von Pfarrer Steve Kennedy Henkel, der eine Gemeinde auf Instagram aufgebaut und seiner Community mit digitaler Seelsorge Hoffnung spendet. Davon erzählt er im Vortrag „Zwischen Angst, Gin Tonic und Jesus“. Bettina König ist Diakonin in der Bahnhofsmission am Zoo der Berliner Stadtmission und berichtet davon, was die Krise bei ihren Klienten, wohnungslosen und hilfesuchenden Menschen, ausgelöst hat, wie sie selbst an ihre eigenen Grenzen stößt und damit umgeht. Die Kircheninnovatorin Sandra Bils von midi schließlich zeichnet die disruptiven Auswirkungen der Corona-Krise auf die Kirche nach und lenkt den Blick in die Zukunft.
Die Tagung bestärkt mich in meiner Überzeugung: Über den „Gefühlsstau“ darf nicht nur – es muss darüber gesprochen werden! Ein guter Ausgangspunkt dafür kann eine midi-Studie sein, die ebenfalls am Montag vorgestellt wird. Die noch laufende Langzeitbefragung begleitet 50 Menschen zwischen 18 und 85 Jahren aktuell durch die Pandemie und befragt sie nach ihrem Lebensgefühl, ihrem Alltag, Freuden, Hoffnungen, Frustrationen, Sorgen und Ängsten. Die Studie kann uns helfen, unsere Sinn-Bedürfnisse in der Krise besser zu verstehen – ohne Vorurteile oder Befangenheit. Und sie passt hervorragend zur UNERHÖRT! – Kampagne (https://www.diakonie.de/unerhoert/) der Diakonie Deutschland. Die ersten Ergebnisse der qualitativ ausgerichteten Studie sind spannend. So nennen die Befragten als größte Angst nicht, selbst zu erkranken, sondern einen anderen Menschen anzustecken. “Der Gedanke, Schuld am Leiden Anderer zu sein, ist bei allen präsent”, berichten die Autor*innen. Die damit verbundenen Szenarien spielen sich im Kopf ab und belasten die seelische und mentale Gesundheit. Dies könne zu einer “prä-traumatischen Schockstarre” und extremer psychischer Belastung führen, so die Studie.
Nicht Kalendersprüche, sondern Zuhören, echter Dialog, der auch die emotionale Dimension unseres Menschseins in den Blick nimmt, darin liegt mehr als nur “eine Chance”. Horx zitiert den israelischen Philosophen Gershom Sholem, der unsere Zeit einmal “die plastische Zeit” nannte: “Alles verändert sich. Es wird unruhig, aber auch interessant.” Das Ergebnis einer solchen Tiefenkrise kann ein neues Denken und Fühlen sein, das Ich und Wir neu definiert.
Wenn wir genau hinsehen, zuhören und uns unterbrechen lassen. Vielleicht ist das Anhalten, das Eröffnen solcher Orte und das Gestalten unterbrechender Zeiten vertiefter Reflektion und verstehender Dialoge mit Hoffnungsperspektive viel eher eine gesellschaftliche Aufgabe von Kirche und Diakonie als schlagzeilenträchtige, aber eben oft auch erschreckend öberflächlich bleibende Schnelldiagnosen.