“Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten”

Am Mittwoch dieser Woche hatte ich einen meiner Lieblingstermine im Jahreslauf: Seit 2008 überreichen wir jedes Jahr dem Deutschen Bundestag einen original Wichern’schen Adventskranz. Dieses Mal stammt der unübersehbar große Kranz aus der Gärtnerei der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal: zwei Meter im Durchmesser und ganz schön schwer zu tragen. Johann Hinrich Wichern ist der Ahnvater der “Inneren Mission”, unserer heutigen Diakonie, und der Erfinder des Adventskranzes. Seit 1839 schmücken den Wichernkranz bis zu 26 Kerzen: in der Regel 20 rote für die Werktage und vier weiße für die Sonntage.

Übergabe des Wichernkranzes an den Deutschen Bundestag                         ©Diakonie/Stephan Röger

Rio Reiser – ein Freund aus alten Tagen der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Claudia Roth, die in diesem Jahr den Kranz entgegennahm – sang mit seiner Band “Ton, Steine, Scherben”: “Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten”. In der dunkelsten Jahreszeit, wenn Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Ewigkeitssonntag gerade zurückliegen und die Tage immer noch kürzer werden, werden plötzlich kleine Lichter angezündet. Jeden Tag eines mehr. Bis schließlich – nicht zufällig zur Wintersonnenwende – alle Kerzen brennen und Weihnachten da ist.

Wie wichtig muss das für die Kinder des legendären “Rauhen Hauses” gewesen sein, das Wichern für die verwahrlosten, verhaltensauffälligen oder straffällig gewordenen armen Hamburger Kinder 1833 gegründet hatte! Kinder, die mit Müh und Not der strukturellen Gewalt des völlig verdreckten Industriezeitalters entkommen waren. Pauperismus allüberall. Alkoholismus, Kriminalität, Prostitution, später verkitscht in der Liedzeile, “Auf der Reeperbahn nachts um halb eins”. Hier konnten sie aufatmen, hatten einen Schutzraum, ein Asyl. Und hatten sicher ihre Freude an den Kerzen des Kranzes: “Kinder nehmen Details wahr.”

Sage noch einer, Orthodoxie und Katholizismus seien sinnlich, mystisch und geheimnisvoll, der Protestantismus aber kopflastig, spröde und sinnentleert. Advent und Weihnacht lehren etwas anderes: Ob Weihnachtsbaum oder Adventskranz, ob Gemeindegesang oder Bach’sche Oratorien: Auch der Protestantismus hat seine Sinnlichkeit und es ist schön zu sehen, wie auch diese Symbole des Glaubens ihren Siegeszug über die Welt angetreten haben. Vom mehrheitlich muslimisch geprägten Beirut mit seinen Riesen-Weihnachtsbaum-Zedern über die Plastikbäume in Westafrika bis zum größten, sechs Tonnen schweren Adventskranz – ausgerechnet in der Hochburg der katholischen Wallfahrt Österreichs, in Mariazell.

Diese Zeichen sprechen nun in die diesjährige besondere Adventszeit hinein. Dabei ist den allermeisten Menschen wohl gar nicht mehr bewusst, dass diese vier Wochen auf Weihnachten hin immer Buß- und Fastenzeit waren. Mit St. Martin am 11. November war die letzte Gans bis Weihnachten geschlachtet. Und spätestens mit dem Namenstag der Katharina am 25. November galt der alte Reim: “Kathrein stellt den Tanz ein.”

Die Bauern hatten ihre Ernte eingefahren und versorgt. Nun saß man in den engen Katen, der kalte Herbstwind pfiff durch alle Ritzen und man fiel gleichsam – in einen Winterschlaf. Auch das hatte die evangelische Kirche übernommen: Durften am 1. Advent noch einmal die Blechbläser ihr “Nun komm, der Heiden Heiland” spielen und die Pauken begleiten, so war danach Schluss bis zum 1. Weihnachtstag. Eine Bachkantate für den 2. bis 4. Advent findet man deshalb nicht.

Wie seltsam, dass mich dieses Jahr 2020 so sehr an die “geschlossenen Zeiten” des Advents früherer Jahrhunderte erinnert. Ich laufe zur S Bahn – ungewohnte Ruhe. Ich fahre mit der S1 zum Nordbahnhof – gähnende Leere. Ich laufe auf der Invalidenstraße in Berlin-Mitte entlang – fast wie eine Fußgängerzone. Was Generationen von Menschen in der Spätmoderne nicht geschafft haben: Entschleunigung, geänderte Mobilität, Corona zwingt es herbei. Wo früher eine Reise die andere jagte, sitze ich nun im Büro oder zuhause und verbinde mich virtuell und digital mit der Außenwelt.

Freilich, das geht längst nicht allen Menschen so. Es gibt auch und gerade in unseren Handlungsfeldern auch gegenteilige Erfahrungen.

Ich denke an den leitenden Arzt einer geriatrischen Klinik in Stuttgart, der mir zuruft: “Land unter. Hier geht nichts mehr. Hatte ich im Frühjahr noch 50 Covid-Patienten hier, so sind es jetzt 100. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas in meiner über 30-jährigen Berufslaufbahn erlebt zu haben.” Oder ich denke an die Pflegenden, die ich auf meiner Sommerreise besucht habe. Es muss ihnen doch wie ein Flash-Back vorkommen, wenn sie jetzt, obwohl besser geschützt und vorbereitet, wieder vor ähnlichen Herausforderungen wie im Frühjahr stehen.

Und dann höre ich die Berliner Gesundheitssenatorin in der “Abendschau” und sie sagt, das seien alles hausgemachte Probleme. Die Krankenhäuser würden es doch auch schaffen. Das läge alles an mangelnder Hygiene in den Alters- und Pflegeheimen. Was für eine unreflektierte Ohrfeige für die Abertausenden Menschen, die dort über Monate hinweg ihr Bestes geben, ohne Stechuhr und Selbstfürsorge!

Corona braucht es nicht, Gott sei’s geklagt, dass diese Seuche uns überfallen hat. Aber vielleicht braucht es dennoch ein Innehalten dieser Weltgesellschaft, ein Sich-auf-sich-besinnen, eine “geschlossene Zeit”. Wir müssen uns besinnen, so wie wir bisher geaast haben mit unseren Möglichkeiten, unseren materiellen und geistigen Ressourcen. Die Alten hätten so etwas “Buße” genannt.

Nicht “Paranoia”, sondern “Metanoia” braucht die Weltgesellschaft. So hat es Matthias Horx kürzlich in einem großartigen Forum unserer Zukunftswerkstatt “midi” auf den Punkt gebracht. “Metanoia” meint, sich berühren, sich bewegen lassen, Neuanfang im Geiste. Deshalb ist es vielleicht kein Zufall, dass der 3. und – wie ich finde – schönste Adventssonntag Johannes dem Täufer gewidmet ist. Dieser Sonntag, wo die Paramente an Altar und Kanzel schon nicht mehr buß-violett sind, sondern altrosa: Das Weihnachtslicht schimmert schon hindurch! Er rief zu einer Umkehr im Geiste auf und der Satz Jesu, “Gürtet Eure Lenden und zündet Lichter an!” (Lukas 12), hätte gut zu ihm gepasst.

Aufmerksam, wachsam sollen wir Christenmenschen sein, gerade in diesen merkwürdigen Zeiten. Und Lichter anzünden! Hoffnungslichter.

Ich jedenfalls freue mich schon darauf.

Zum Schluss ein kleiner Tipp für LichterfreundInnen:

Nach alter Mütter Sitte darf man die erste Kerze des Adventskranzes schon entzünden, wenn es samstags draußen dunkel geworden und der erste Stern am Himmel zu sehen ist. Am Samstag geht die Sonne hier in Berlin um 15.58 Uhr unter. Vielleicht leuchtet also die erste Kerze des Adventskranzes schon ganz bald…

Ich wünsche Ihnen eine vom Glanz von Weihnachten her erleuchtete Zeit der Unterbrechung und einen gesegneten Advent!