Altenpflege am Limit

#Pflege fair behandeln! Dank der neuen repräsentativen Covid-19-Pflege-Studie der Diakonie, die wir in dieser Woche in Berlin vorgestellt haben, können wir mit Zahlen unterfüttern, was auf der Hand liegt: Auch emotional bringt die Corona-Pandemie unsere Pflegekräfte an und oft über ihre Belastungsgrenzen. Viele Kolleginnen und Kollegen sind am Limit oder schon darüber hinaus. In den Einrichtungen der Altenhilfe, bei den ambulanten Dienten und in den Hospizen bestimmen Wut, Ärger und Verzweiflung über die Hilflosigkeit die Gefühlslage.

Zwei Frauen bei Coronaschnelltest
Anitgentests für die Altenhilfe: Alle Mitarbeitenden und die Bewohnerinnen und Bewohner sollten zweimal wöchtenlich getestet werden. epd-bild/Peter Sierigk

96 Prozent unserer Fachkräfte fordern, dass sich die Rahmenbedingungen für ihren Beruf grundsätzlich verbessern müssen. Jetzt muss etwas passieren!

Hilfeschrei und Konsequenzen

Ich bin sehr froh über das Medienecho, das die Studie in den vergangenen Tagen bekommen hat. Denn es besteht dringender Handlungsbedarf: Dieser Hilfeschrei muss Konsequenzen nach sich ziehen. Wir brauchen endlich eine grundsätzliche Pflegereform.

Schon 2019 hat die Diakonie Deutschland ein Konzept für eine solche Pflegereform zur Diskussion vorgelegt. Wir fordern: eine bessere Bezahlung, einen besseren Pflegeschlüssel und eine schon lange überfällige Reform der Pflegeversicherung, um all das nachhaltig zu finanzieren. Die Zeit der pflegepolitischen Kosmetik, der Klein-Klein-Verbesserungen ist vorbei.

Altenpflege vor dem Kollaps

Die Menschen, die in der Altenpflege arbeiten, arbeiten ja nicht erst seit Corona an und über ihrem Limit. Das Virus macht die ohnehin vorhandenen Schwächen des Systems nur schmerzhaft sichtbar, und beschleunigt einen Kollaps. Was die Kolleginnen und Kollegen derzeit leisten – und schon im Corona-Frühjahr geleistet haben -, kann und darf niemand auf Dauer von Menschen erwarten.

Eine Frontlinie der Pandemiebekämpfung verlief und verläuft immer noch quer durch die Einrichtungen der Altenhilfe: In der ersten Welle war das Fehlen der Schutzausrüstung das größte Problem, jetzt ist es immer noch der Zugang zu ausreichenden Tests. Zweimal wöchentlich sollten Mitarbeitende und Bewohner*innen getestet werden.

Hier klemmt die Logistik – und das gefährdet im Endeffekt Menschenleben. Und es bedroht unsere Alten erneut mit Isolation. Besuche zu ermöglichen, auch zu Weihnachten, setzt gute Prävention und regelmäßiges Testen voraus.

Umsichtig und professionell

Dass die Einrichtungen der Altenhilfe trotz alledem überhaupt arbeitsfähig waren und sind ist allein dem umsichtigen, unermüdlichen, hochprofessionellen Agieren und Reagieren der Mitarbeitenden zu verdanken. Und trotzdem erleben sie Misstrauen und Anfeindungen.

Es ist unverzichtbar, den Pandemie-Erfahrungsschatz dieser „Diakonie-Mitarbeitenden am Bett“ systematischer zu heben und zu Gehör zu bringen. Denn auf der Basis dieser Erfahrungen kann sinnvoll für Pflege in der Pandemie gelernt werden.

Sie haben offenbar sehr viel richtiggemacht. Denn in rund 80 Prozent der stationären Einrichtungen gab es trotz der katastrophalen Unterversorgung mit Schutzmaterial während der ersten Welle gar keine Infektionen.

Achillesferse der Altenpflege

Das deutschlandweit, in allen Landesverbänden der Diakonie adressierte Hauptproblem hinter allem ist und bleibt der eklatante Personalmangel. Hier liegt die Achillesferse in der Altenpflege. Das ist keine Überraschung.
Längst ist gutachterlich festgehalten, dass Pflegeheime in Deutschland mehr als 100.000 Pflegefachkräfte mehr brauchen. Hinzukommen müssen Hilfskräfte in ähnlich hoher Zahl.

Die Pandemie konfrontiert alle Einrichtungen durch Infektionen und Quarantänemaßnahmen mit einem zusätzlichen massiven Personalausfall. In manchen Häusern fielen kurzfristig 50 Prozent der Mitarbeitenden aus.

In der Altenpflege arbeiten wir schon viel zu lange „auf Kante genäht“. Auch unter Normalbedingungen. Warum? Weil uns die gesetzliche Grundlage, die Finanzierung der Pflege, dazu zwingt. Weil es zu wenige Menschen gibt, die unter den derzeitigen Bedingungen ein Berufsleben in der Pflege wählen. Und zu viele den Beruf nach durchschnittlich acht Jahren wieder an den Nagel hängen. Ausländische Fachkräfte allein werden diese Lücke nicht schließen können. Auch von den im vergangenen Jahr versprochenen 13.000 neuen Stellen sind erst an die 4.000 besetzt.

Die Leidtragenden sind wir alle: unsere Eltern und Großeltern, die auf pflegerische Unterstützung angewiesen sind, und unsere Freundinnen, Familienmitglieder, Bekannte und Verwandte, die unter den derzeitigen Bedingungen in der Pflege arbeiten müssen.

Pflege fair behandeln

#Pflege fair behandeln ist der Hashtag, unter dem wir die Covid-19-Pflegestudie veröffentlichen und öffentlich diskutieren wollen. Wir hoffen auf eine lebhafte Debatte, die Folgen nach sich zieht. Dafür setzen wir uns in einem breiten Bündnis ein, das natürlich weit über die Diakonie hinausgeht.

Fairness ist das Mindeste, was die Pflegenden erwarten dürfen. Und Politik und Gesellschaft müssen aus der Pandemie, in der die lang schon bekannten Schwächen unseres Pflegesystems sich dramatisch verschärfen, endlich echte Lehren ziehen. Bei Balkonapplaus und Einmalbonuszahlungen darf es nicht bleiben. Bitte sprechen auch Sie mit Ihren Bundes- und Landtagsabgeordneten darüber! Jetzt.